JM: Viele Menschen spüren nicht erst seit der Pandemie Angst. Das Gefühl gehört zu ihrem Leben dazu. Auch du redest in deinem Podcast „Das Herzprinzip“ sehr häufig über Angst. Leider hören wir ja immer wieder, dass wir alle angstfrei und furchtlos sein sollen. Übermäßige Angst gilt nicht als „normal“. Wie siehst du das? Findest du es menschlich, Angst zu haben?
Sten Bens: Ohne Frage ist Angst menschlich, im wahrsten Sinne des Wortes „natürlich“. Und hätte sie keinen Sinn für uns Menschen, dann hätte sie sich auch über die Jahrhunderte aus unserem kulturellen Erbe herausgeschlichen. Offensichtlich ist Angst – zumindest in der Vergangenheit – eine dominante Überlebensstrategie gewesen.
JM: Angst ist störend und unangenehm und scheint nur Kindern vorbehalten zu sein, zumindest wenn sie irreal ist. Angst blockiert uns auf dem Weg hin zu unseren Träumen oder lässt uns zweifelnd und resigniert zurück. Sie schafft Herausforderungen in Beziehungen aller Art, aber besonders in der Beziehung zu uns selbst. Wie siehst du Angst?
Sten Bens: Grundsätzlich gilt, dass Angst sowohl ein guter Ratgeber sein kann (als einer von vielen Ratgebern), als auch eine Bremse. Immer dann, wenn wir uns auf dem Weg zu unseren Wünschen und Zielen durch Angst ausbremsen lassen – immer dann, wenn es ein gelingendes Leben verhindert – , sollten wir uns der Angst intensiver zuwenden und eine Klärung herbeiführen. Allerdings nicht erst, wenn sie übermächtig wird. Ängste sind eine Reaktion von mir selbst und deuten auf ein Ungleichgewicht, von dem ich mich (durch die Angst) in Kenntnis setze. Mein Innerstes ist nicht gegen mich, es agiert aber auch nicht auf Basis unseres kulturellen Erbes. Auf der Ebene des Systems Mensch, also auf der rein physischen Ebene, existieren keine Bewertungen, wie sie uns unser kulturelles Erbe vorgibt. Ich muss erst einmal nur verstehen, dass die Dinge nicht gegen mich passieren, sondern mich dazu bringen wollen, wieder auf Kurs zu kommen.
JM: Du arbeitest seit Jahren als Business Coach. Siehst du Unterschiede im Empfinden von Angst oder in der Art von Angst zwischen privaten und beruflichen Situationen?
Sten Bens: Ich finde die Frage gar nicht so leicht zu beantworten, weil ich bislang noch keine 2 wirklich exakt gleiche Ängste erlebt habe. Das faszinierende ist die Einzigartigkeit jedes Menschen und jeder Geschichte. Dennoch würde ich diese Grenze zwischen beruflich und privat nicht ziehen wollen. Eine Angst wird sich bei einem Menschen an unterschiedlichen Stellen im Leben Ausdruck verleihen. Wir erkennen oft nicht, dass die unterschiedlichen Felder von derselben Angst beherrscht werden. Der Ausdruck der Angst kann dabei in den unterschiedlichen Lebensbereichen sehr verschieden daherkommen, so dass es oft nicht erkannt wird.
JM: Gleichen sich Ängste von Männern und Frauen? Ich als Frauenmentorin sehe definitiv Unterschiede. Mich interessiert deine Meinung als Mann daher sehr.
Sten Bens: Frauen gehen definitiv anders mit Gefühlen um als Männer, was die Ängste schon von dieser Seite her verschieden macht. Angst ist ja kein fester Gegenstand, sondern ein Gefühl. Wenn ich damit anders umgehe, dann betrachte ich sie anders, nehme sie demnach auch anders wahr. Somit ist meine Antwort auf Deine Frage ein klares JA!
JM: Laut Forschung kommen wir alle mit zwei Ängsten auf die Welt: die Angst vor lauten Geräuschen und die Angst vor Höhe. Und dann gibt es all die Ängste, die wir im Laufe unseres Lebens mit zu unserem emotionalen Potpourri hinzufügen: Angst vor Tieren, Ärzten, Präsentationen vor Tausenden von Menschen, Flugreisen, Autofahren, Versagen. Einige wie die Angst vor Spinnen sind (fast) gesellschaftlich akzeptiert, während andere Ängste Unverständnis auslösen. Hast du Gedanken dazu?
Sten Bens: Das mit dem Unverständnis halte ich für gefährlich. Jemanden seine Angst abzusprechen oder als lächerlich abzutun, empfinde ich persönlich als emotional unreif. Das ist in unserer Gesellschaft allerdings weiter verbreitet, als mir vor Corona bewusst war. Die Art, wie die Impfdebatte geführt wird, zeigt die immense Unreife auf allen Ebenen. Es scheint keiner zu verstehen, dass Menschen aus Angst ab einem gewissen Punkt nicht mehr rational handeln und in ihrer Not schlimme Dinge tun können. Aggressives Verhalten der anderen Position gegenüber zeigt, wie viel Angst im Spiel ist. Beide Seiten sind unfähig, auf die jeweils andere Seite zuzugehen. Hier müsste mit viel Verständnis (Zuhören) und Offenheit gearbeitet werden. Aber dafür nehmen wir uns keine Zeit mehr. Natürlich kann die Angst genauso gut in Lähmung und/oder Rückzug münden. Diese Menschen geraten ins Abseits …
JM: Was glaubst du: Fördert unsere Gesellschaft Angst?
Sten Bens: Wir sind eine schnelllebige Gesellschaft und werden dadurch an vielen Stellen auch immer oberflächlicher. Angst ist das ausschließende Prinzip (Liebe das umfassende). Wenn ich etwas nicht verstehe, also mich nicht in der Tiefe damit beschäftigt habe, dann lehne ich es leichter ab, ich kann es nicht mehr fassen und will es dadurch auch nicht näher an mich ranlassen. In der Konfrontation damit entwickle ich Ängste, weil ich damit nicht umzugehen weiß. Auf diese Art wurden die alte Hitchcock-Thriller verfilmt. Am Anfang ist die Spannung immer sehr hoch, weil wir noch nicht wissen, wer der Mörder ist und er in jeder Szene zuschlagen könnte. Wir empfinden selbst die Angst des Protagonisten. Wenn wir dann wissen, wer es ist, sind wir etwas entspannter.
JM: Siehst du einen Zusammenhang zwischen Angst, Erziehung und dem Schulsystem? Besonders Leistungsdruck und mögliches Versagen — auch in Verbindung mit Schuld und Scham — lösen laut einer Studie aus dem Jahr 2019 kontinuierlich Angst bei Studenten aus.
Sten Bens: Das ist ein Riesenfass. Grundsätzlich halte ich das Schulsystem für völlig überholt. Aber offensichtlich ist der politische Wille groß, weiterhin gehorsame Söldner zu produzieren. Dass das Trennen von den Stärken der Kinder unweigerlich Unsicherheiten und Zweifel aufruft, ist im Kontext der Bewertung, wie sie dort geschieht an der Tagesordnung. Das sind Traumata, die die Kinder dort durchleben. Allein die Tatsache, dass unsere Kinder Verantwortung lernen sollen, aber stattdessen Schuld und Scham erfahren, ist an Ironie kaum zu überbieten. Verantwortung hat nichts mit Schuld oder Scham zu tun. Wenn Du Dich schuldig fühlst, bist Du meilenweit weg von Verantwortung. So etwas muss schnellstmöglich wieder aus dem Denken raus.
JM: Nicht nur als Ex-Angst“gestörte“, sondern auch als Mentorin für Frauen bei Bindungsängsten erlebe ich Ängste meiner Klientinnen um einiges stärker, wenn Liebe mit ins Spiel kommt. Würdest du zustimmen? Und falls ja: Was glaubst du, wieso das so ist?
Sten Bens: Um richtig lieben zu können, müssen wir uns verletzbar machen. Wir müssen bereit sein, uns verletzlich zu zeigen, unsere Schwächen zu präsentieren – und wir müssen vertrauen können. Also um das kurz zu klären: Ich meine nicht das Vertrauen á la „Hier sind meine Regeln und ich vertraue Dir, dass Du sie einhältst“. Das ist Kuhhandel-Liebe. Ich sage nicht, dass es keine Regeln gäbe. Darum geht es mir hier nicht. Mir geht es darum, wie. Ich meine dieses Vertrauen, wenn Du Deinem Partner, Deiner Partnerin alles sagen kannst und Du weißt, es wird nicht gegen Dich verwendet. In der Liebe geht es zunächst einmal um pures Gefühl – sollte es zumindest. Das ist natürlich Kontrollverlust und das macht Angst. Wenn man jetzt sieht, wie viele Beziehungen reiner Kuhhandel oder Liebe mit Bedingungen sind, dann erkennt man auch, wo wir stehen. Das Problem steckt in unserer Kultur fest und kann nur durch bewusste Arbeit an uns selbst gelöst werden.
JM: Sollte man Angst isoliert oder im großen Ganzen betrachten? Ich persönlich vertrete die — wie ich sie nenne — „Türsteher-Theorie“, nach der Angst vor anderen (unliebsamen) Gefühlen schützen soll. Sie zeigte sich auch bei mir immer dann, wenn ich mit einem noch „schlimmeren“ Gefühl konfrontiert gewesen wäre, mit dem ich nicht umgehen konnte. Bei vielen ist es entweder Traurigkeit, Wut, Scham und Schuld. Aber auch Überraschung im Sinne von Unberechenbarkeit und Kontrollverlust sowie Freude sehe ich immer wieder. Wie ist deine Meinung dazu?
Sten Bens: Ist es nicht immer die Angst vor etwas? Ich teile Deinen Gedanken. Allerdings gibt es auch die Angst vor der Angst, was dann wiederum zu Panik führt. Ja, das ist ein komplexes Ding. Die Angst soll uns vor etwas anderem schützen oder abhalten. Das andere haben wir aber noch nicht richtig betrachtet und je weniger ich das eigentliche Thema verstehe, um welches es bei der Angst geht, desto mehr Angst habe ich. Nimm einen Traum, in dem Du vor etwas davonläufst, und Du spürst im Traum die Angst. Wenn Du dann irgendwann bereit bist, im Traum stehen zu bleiben, Dich umzudrehen und Deinem Verfolger ins Gesicht zu schauen, dann wirst Du feststellen, dass die Angst weggeht. Der Traum erklärt die Regeln. Wenn Du den Grund erkennst (verstehst), schwindet die Angst. Nun ist das Thema sehr komplex und es kann mitunter für einem selbst völlig unverständlich sein, wie die Angst mit den Themen verbunden ist, aber sie ist da.
Ich erinnere mich an einem Fall, den meine Dozentin Cloé Madanes mit uns geteilt hat: Eine Frau, Mitte 30, bekam seit einem halben Jahr scheinbar ohne Grund regelmäßig beim Autofahren Panikattacken. Sie kam ins Coaching. Im Gespräch ergaben sich aber keine Anhaltspunkte auf einen Grund. Somit bat Cloè sie, eine vertraute Person – hier war es ihre Mutter – mit in die Sitzung zu holen. Durch eine andere Person werden neue Perspektiven auf die Situation gegeben. Die Mutter erzählte dann, dass ihre Tochter sich 9 Monate zuvor mit der Schwester verstritten hatte und seither auch ihre Nichten nicht mehr sieht, die sie vorher quasi mit großgezogen hatte. Tatsächlich führte die Aussöhnung mit der Schwester zur Lösung der Angst. Das Thema ist ziemlich komplex und viele wissen gar nicht, an welcher Stelle sie ansetzen sollen, und wie sie überhaupt dahin kommen.
JM: Welchen einen Rat würdest du jedem geben, der seine (kleine oder große) Angst überwinden möchte?
Sten Bens: Geh da nicht allein durch. Am Ende musst Du sie alleine überwinden, jedoch ist es ungleich leichter, sich professionell begleiten zu lassen. Es gibt wirklich gute Therapeuten. Die Therapieform ist für mich weniger entscheidend als die richtigen Therapeuten. Finde einen guten Menschen Deines Vertrauens, aber gebe niemals die Macht ab. Du bist und bleibst verantwortlich für Dein Leben. Welche Behandlung auch immer Du wählst, die Konsequenzen daraus wirst Du erleben, nicht Dein Therapeut, nicht Dein Arzt … Du bist verantwortlich für das Erleben des Lebens. Wohl gemerkt: Ich sage nicht, Du wärst verantwortlich für das Leben. Das ist ein Unterschied.
JM: Und als letzte Frage: Kann Angst auch etwas Gutes haben?
Sten Bens: Grundsätzlich gilt: Wenn Angst nichts Gutes hätte, dann gäbe es sie nicht mehr in unserer Kultur. Alles was wir in uns tragen, hat irgendeinen Sinn zu bestimmten Zeiten. Angst soll schützen. Dafür ist sie gut. Sie hält unsere Wachsamkeit höher und wir gehen wegen ihr viele Dinge mit mehr Respekt an. Wichtig ist nur, dass wir die Angst als Ratgeber nutzen können. Sie darf nur nicht unsere Bremse werden.
Über Sten Bens
Als Mental-Coach für Profisportler und Business Coach für führende Persönlichkeiten sowie Buchautor, Dozent, Tony Robbins-Schüler und Podcaster gilt Sten Bens heute als einer der führenden Coaches im Bereich Life Design, Kommunikation, Leistungsmotivation und Zielführung. Er hat u. a. für Carl Zeiss, Kellogg’s, Sony, in Projekten für die Europäische Raumfahrt sowie in einem Think Tank für die Regierung gearbeitet.
Dieses Interview führte Janett Menzel.
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