Wie überwindet man Angst? Gibt es eine Frage, die häufiger gestellt wird, wenn man Angstzustände hat? Nein. Weil jeder seine Angst überwinden will, aber dabei glaubt, Angst wäre das Problem. Ich gehörte bis 2014 selbst dazu. Dank meiner jahrelangen Suche nach Erklärungen, meiner eigenen Therapie und der vielen Gespräche mit Angstbetroffenen kann ich dir eine nicht so verbreitete Antwort auf die Frage geben.
Wie kannst du deine Angst überwinden?
Man überwindet seine Angst, indem man das Folgende versteht: Angst ist nicht das Problem. Angst soll dich beschützen – vor etwas vermeintlich Gefährlichem, einem für dich bedeutsamen Ereignis oder einen Umstand, wodurch Gefühle ausgelöst würden, mit denen du nicht umgehen gelernt hast. Zum Beispiel: Trennung – Alleinsein – Schuld, Traurigkeit oder Kündigung – Geldmangel – Armut.
Abgesehen von hormonellen Ursachen (Schilddrüse, Prä-, Post-, Menstruation-Phasen usw.) und neurologischen Belangen (z. B. Hirnverletzungen nach Unfällen) arbeitet Angst wie ein verflucht guter und nerviger Türsteher. Ich meine einen von der Sorte, bei dem man nur schief gucken muss, um nicht reingelassen zu werden. Da wir aber alle in den Club wollen, prüft er besonders gut und greift notfalls hart durch. So ist Angst: Angst ist ein Schwellenwächter, der sich vor die (vermeintliche) Gefahr stellt und dafür sorgt, dass sie abgewehrt wird, z. B.
👉 bei Urgefühlen wie Schuld, Scham, Wut, Traurigkeit, Überraschung, ja sogar Freude, wenn wir keinen gesunden Umgang mit ihnen gelernt haben
In meinem 2020 veröffentlichten (Frauen)Ratgeber zur Bewältigung von Ängsten „Mein neues Leben ohne Angst“ (TRIAS Verlag) gehe ich ausführlich darauf ein, dass dieser nicht gelernte gesunde Umgang mit einzelnen Gefühlen zu 95 Prozent später problematisch werden kann. Denn unsere Eltern und das soziale Umfeld, in dem wir aufwuchsen (Freunde, Schule, Lehrer etc.) haben uns vorgemacht, wie man mit Schuld, Scham, Traurigkeit, Angst und anderen Gefühlen umgeht.
Durften wir Angst haben? Mussten wir genauso Angst vor z. B. Hunden oder ungewisse Situationen haben wie ein Elternteil? Durften wir uns freuen und besser sein oder uns auf Neues einlassen und frei entdecken, entfalten oder wurden wir in Richtungen gelenkt? Was galt als beschämend, was als Schuld? Wurde offen geweint und wenn ja, wann? Welche Anlässe galten als „okay“, um zu weinen? Oder wurde uns gar beigebracht, dass „Krieger keinen Schmerz kennen“ und „große Mädchen keine Tränen“? Eins haben wir alle gelernt: „DU brauchst keine Angst (zu haben). Sie ist unnütz.“ Das könnte nicht weniger stimmen. Wir brauchen Angst sehr wohl: als Kompass, wenn unsere Intuition nicht ausgeprägt genug ist (oder wir untrainiert darin sind, sie wahrzunehmen). Wir brauchen Angst, um unser Leben und unsere Unversehrtheit zu schützen. Nur die irrealen Ängste, die uns an unserer Lebendigkeit hindern, bräuchten wir nicht. Ich benutze hier bewusst den Konjunktiv, weil wir nur dann irreale Ängste „brauchen“, wenn wir versuchen in Umfeldern zu bleiben, die schlecht für uns sind: toxische, destruktive, lieblose oder auseinandergelebte Partnerschaften, unpassende Jobs oder Arbeitgeber, einseitige Beziehungen (Freunde, Familie). Wir brauchen irreale Ängste auch dann, wenn wir gelernt haben, dass sich zu trennen oder andere zu verlassen, andere in Schranken zu weisen, weil sie unsere Bedürfnisse und Grenzen wiederholt verletzen, schlecht ist. „Das macht man nicht!“ = Fühle dich schuldig! Schäm dich! Ergo kommt der gute Türsteher und sagt: „Ne.“
Wir haben die Lehren unserer Erziehungspersonen wie ein Schwamm aufgenommen und abgespeichert, weil Kinder so sind: Sie ahmen nach. Sie vertrauen darauf, dass das, was ihnen beigebracht wird, stimmt. Doch was, wenn diese Lehren gänzlich falsch für unsere Persönlichkeit sind? Was, wenn wir heimlich ein anderes Verständnis von Gefühlen entwickelten, aber die Lehre noch immer dominiert? Was, wenn wir noch immer in einem Umfeld sind, in dem man „so“, „so nicht“ mit Angst umgeht: sie lieber verschweigt, nicht bespricht, genauso wenig wie alle anderen Gefühle und unerfüllten Bedürfnisse? Dann gibt es nur einen Weg, um Angst zu überwinden:
Hinterfrage dich, was du über diese Gefühle gelernt hast. Wie wurde dir beigebracht/vorgelebt, mit diesen Gefühlen umzugehen?
- Scham
- Schuld
- Traurigkeit
- Überraschung (auch: „wenn dich etwas kalt erwischt“)
- Wut
- Freude
- Angst
- Hilflosigkeit
Allein diese Auseinandersetzung wird dir helfen zu verstehen, wieso ANGST aufkommt, wenn es um diese Gefühle geht.
Was macht noch Angst und wie überwindet man sie?
Es gibt noch weitere Situationen, in denen uns Ängste die Kehle zuschnüren können, weil wir ihre Bedeutung verkennen:
👉 bei Folgegefühlen (nach Traurigkeit, Wut etc.) wie Enttäuschung
👉 bei Ersatzgefühlen (statt Traurigkeit kommt Wut etc.), weil wir z. B. lernten, dass wir nicht wütend sein dürfen
👉 bei Ereignissen wie Verlust (von Macht-Selbstermächtigung, Anerkennung, Zugehörigkeit) kämen Gefühle wie Machtlosigkeit, Einsamkeit, Ablehnung hoch, mit denen man nicht umgehen kann, oder bei der Androhung eines solchen Verlusts
Aber auch Macht-Selbstermächtigung, Zugehörigkeit, Anerkennung sind oft so negativ besetzt, dass wir sie fürchten, weil wir lernten, dass es falsch wäre, sie in unserem Leben zu haben: „Du darfst nicht wichtiger/besser sein als andere“, „Mama/Papa/deine Schwester ist besser“ oder „Wenn du X tust, dann ist Y ganz traurig“. Weil alle vertragen sie nur so la la – eben, wie wir es gelernt haben oder uns selbst beibrachten.
In vielen Fällen – das ist meine Erkenntnis aus 6 Jahren Projekt „Ich habe auch Angst“ zeigen wir nicht, wer wir sind, und vermeiden eher, dass andere unsere wahren Bedürfnisse sehen. Oft deshalb, weil wir gelernt haben, dass es besser für uns ist, wenn wir uns anpassen und den Gegebenheiten fügen. Auch wenn das heißt, dass wir unauthentisch leben.
Der Türsteher trifft oft schlaue Entscheidungen und manchmal weniger schlaue. Er hat eben aus den Erlebnissen der letzten Jahre gelernt:
- Was uns besonders wehtat
- Was uns den Boden unter den Füßen wegzog
- Was uns schlaflose Nächte haben ließ
- Wann unsere Bedürfnisse für andere „problematisch“ waren und welche Konsequenzen das für unsere Ziele hatte
- Wann unsere Grenzen zu hoch/niedrig gesteckt waren (und wie andere das fanden bzw. wie sie reagierten).
Wir fürchten also meist Reaktionen. Angst macht sodann, dass wir (nicht) handeln. Aber das Problem ist Angst selten. Das Problem versteckt sich hinter der Angst bzw. Angst stellt sich davor, damit wir es nicht berühren.
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