Was uns im erwachsenen Leben an Schwierigkeiten und Herausforderungen begegnet – emotional und psychisch – findet seinen Ursprung zu oft in der Kindheit – in unserem inneren Kind. Einst haben wir gelernt, wie Leben vermeintlich geht, wofür wir hier sind und wie unsere Rollen aussehen, was wir sollen und was nicht, wie die Welt tickt und wie wir Teil davon werden (oder bleiben). Nur selten aber decken sich diese Lernerfahrungen mit dem, was wir sein wollen und können. Denn unsere Kindheit ist auch gesät mit Verletzungen, vorrangig die unserer Eltern und Großeltern, die an uns weitergegeben wurden. Wir konnten sie als Kind nicht prüfen, aber im erwachsenen Leben können wir es sehr wohl – mithilfe unseres inneren Kindes.
Ist unser inneres Kind verletzt, sorgt es für destruktive Beziehungen und Missstände, die wir vermeintlich nicht loslassen können, wenn wir älter sind. Hier helfen Erinnerungen an unser wahres Selbst, nachdem wir Missliches, was unser inneres Kind glaubt, aufdecken und ausgleichen. Briefe sind ein hervorragendes Instrument, um seinem inneren Kind zu begegnen: Es ist ein bewährtes Mittel der Schreibtherapie, seinem inneren Mädchen/Jungen einen Brief aus der Sicht des Erwachsenen zu schreiben – um ihm den Weg zu weisen, zu korrigieren, zu bestärken und schlussendlich zu heilen.
Hier ist – als Anregung oder Vorlage – mein Brief. Es ist der Zweite. (Den Link zum Ersten findest du am Ende dieses Briefes.)
Brief an dein inneres Kind
Liebling,
ich habe einige Bitten an dich.
Du darfst immer traurig sein, wenn dir etwas Schlimmes widerfahren ist, aber erinnere dich daran, dass jedes Gefühl – Traurigkeit, Schuld, Scham, Angst, Ekel usw. – eine Entscheidung ist. Du entscheidest, ob du ihm Raum gibst oder nicht. Du entscheidest, ob du dich fürchtest oder nicht. Du weißt, dass du deine Gefühle steuern kannst. Dein Denken ist ein mächtiges Instrument und Gefühle sind deine Freunde. Sie kommen aus der Kindheit und zeigen dir, was du gelernt hast. Was du aber früher gelernt hast, kann heute schon hinfällig sein und morgen schädlich. Viel wichtiger: Was du gelernt hast, kannst du jederzeit wieder verlernen.
Bitte erinnere dich, wie alt du bist, was du bereits in deinem Leben gemeistert hast, worauf du stolz sein kannst und welche Fähigkeiten dich besonders machen. Solltest du auch nichts von dem, was dich ausmacht, nutzen – weder für dich noch für die Welt: Es ist nie zu spät, dein Leben zu verändern. Nimm dir ruhig die Zeit, die du brauchst.
Trennungen aller Art wiegen schwer für jeden Menschen. Du bist nicht allein damit. Wenn dich jemand verlässt, sei traurig, weil es schmerzt, aber erinnere dich daran, dass du ebenso dankbar sein könntest, einen Menschen weniger in deinem Leben zu haben, der nicht zu dir gehören will. Gib das Kämpfen auf. Es geht darum, jene zu finden, die bei dir sein wollen, weil sie zu dir passen und du zu ihnen.
Deshalb: Wenn dich jemand verletzt, prüfe sorgfältig, ob es dein Ego ist, das weint, oder dein Herz. Dein Kopf und Herz sind mit Grund voneinander entfernt. Beide haben ihre Aufgaben, aber nicht immer haben beide recht. Es kann so aussehen, als würdest du bitter leiden, während es nur eine Kränkung deines Egos ist. Es kann sein, dass du meinst, etwas würde dir nichts anhaben, dir nichts ausmachen, während dein Herz leise bricht. Kenne den Unterschied. Kenne dich.
Wenn du abgelehnt wirst – und das wird nicht selten geschehen – bleib dennoch positiv und dankbar. Vertraue den Menschen in ihren Ansichten über dich und sich und euer beider Wohl. Wenn sie dich nicht wollen, so ist es ihre Entscheidung. Respektiere sie. Sie ist richtig, weil sie sich richtig für denjenigen anfühlt. Selbst wenn sie sich für dich falsch anfühlt, so könnte sie doch richtig für dich sein. Manchmal wollen wir erst recht das, was wir nicht haben können. Und viel zu oft wünschen wir uns, was uns nicht guttäte. Es nützt dir wenig, dich täglich für einen Hauch gelogene Sympathie aufopfern und zermürben zu müssen. Es ist ein täglicher Kampf, der dich zeichnen wird. Du kannst ihn jetzt aufgeben und doch dankbar sein für die schönen Zeiten und nützlichen Lehren.
Lerne ebenso, Menschen zu verlassen oder dich aus destruktiven Situationen zu schälen, ganz egal, wie sehr es jemandem wehtun würde. Dein Leben ist dafür da, gelebt zu werden, in maximaler Freude und mit bestem Gewissen und Wissen. Es ist nicht Pflicht des Lebens, unnötig zu leiden, wenn du dieses Leid vermeiden könntest. Es ist eine Erlaubnis, zu gehen, wann immer du in einer Verbindung keinen gegenseitigen, erfüllten und liebevollen Nutzen erkennen kannst.
Der Tod wird früh genug kommen. Verlust ist unvermeidbar. Sei deshalb Zeit deines Lebens gut zu dir, deinem Körper, deiner Seele und anderen Menschen. Töte weder dich noch andere im Kleinen wie mit Worten, Rache oder Vermeidung, Schweigen, Distanz, Reaktivität oder Angst, Verachtung oder Aufopferung. Alleinsein will gelernt sein und Konflikte gemeistert. Du bist genauso wichtig wie andere. Andere sind genauso wichtig wie du. Wer dir hier widerspricht, gehört nicht in dein Leben.
Jeder Mensch, der dich verletzt, ist dennoch ein wertvoller Lehrer für dich. Hasse ihn nicht. Was dich verletzt, sagt etwas über deine Verletzungen, die, die du so sehr zu lindern versuchst – oder gekonnt verdrängst. Sei nicht tätig, Verletzungen zu vermeiden, die Kontrolle zu behalten oder das Leben gar zu manipulieren. Das alles sind bloße Gedanken, die aus alten Wunden entspringen. Doch alt ist, was alt ist. Jetzt ist jetzt. Je häufiger du mit dem Schlimmen in Kontakt kommst, desto eher wirst du lernen, ruhig zu bleiben, dir und deinem Leben zu vertrauen und so deine Ängste überwinden.
Ängste sind okay, weißt du? Wir alle haben welche. Sie sind da, um dir etwas zu zeigen:
1.) Was du glaubst, nicht zu dürfen oder nicht zu sollen?
2.) Wo es hakt, wo du eingreifen musst, wo es eine Korrektur geben muss?
3.) Was erlaubt dir deine Angst, nicht tun zu müssen?
Ängste sind nicht da, um dich zu quälen. Sie sind nicht da, um dich deines Glücks zu berauben oder zu benachteiligen. Sie sind da, um verstanden und akzeptiert zu werden. Je schneller du deine Ängste kennenlernst, desto näher rückst du an dich selbst heran.
Seien die Verletzungen von Menschen noch so eindeutig: Bleib ruhig und atme. Besinne dich auf ihre Lektionen. Was sie können, kannst auch du. Manchmal lernt es sich am besten von seinem vermeintlich größten Feind, zum Beispiel, wie du nicht bist oder nicht sein willst, wo du nicht hingehörst oder nicht hingehören willst. Es gibt Menschen, die ein Leben lang nach den Antworten auf diese Fragen suchen. Nimm die Gelegenheiten, wie sie kommen, und packe ihre Lektionen am Schopfe. Das erspart dir wertvolle Zeit.
Wer versucht, deine Schwachstellen zu finden, um sie gegen dich auszuspielen, hat ebenso Schwachstellen, die er zu verstecken versucht. Hinter jeder Schwäche steckt eine Stärke, so wie hinter jeder Stärke eine Schwäche steckt. Es ist die Balance, die zählt.
Mitunter sind Angriffe anderer auf dich nicht mehr als der Spiegel ihrer Angst. Finde heraus, was sich dahinter verbirgt, dann übe dich in Verständnis und Vergebung. Doch du bist ein Mensch, keine Fußmatte. Erinnere dich daran und wenn nötig, auch die anderen, die diese Erinnerung brauchen. Mitunter werden/wurden sie selbst so behandelt und kennen keine anderen, gesunden Wege. Man könnte auch sagen: Sprich die Sprache deines Gegenübers. Sei sanft zu dir und denen, die Sanftheit verstehen. Sei bereit, sanft hart zu jenen zu sein, die nichts als Härte üben, indem du ihnen deinen Grenzen aufzeigst. Die größten Verletzungen, Missverständnisse und Kommunikationsfallen entstammen dem Schweigen, der Unkenntnis und Uneinsichtigkeit.
So bleibe offen Menschen gegenüber, die Charaktereigenschaften haben, die dir fremd sind. Sie wuchsen anders auf als du. Aber sie sind Menschen, so, wie du. Was kannst du von ihnen lernen? Was können sie, was du nicht kannst? Was kannst du ihnen beibringen? Was kannst du, was sie nicht können? Welches gemeinsame Ziel habt ihr? Welche Handlungen würden es euch erleichtern, euer Ziel zu erreichen?
Fehler zu machen, heißt nicht, ein Fehler zu sein. Selbst die härteste Kritik ist nichts weiter als Feedback. Bleib ruhig und frage stattdessen, was du neben dem Fehler gut gemacht hast. Das lenkt aller Aufmerksamkeit ab – besonders deine.
Du wirst dein Leben lang lernen und an dir arbeiten dürfen. Nenne es Persönlichkeitsentwicklung oder Potenzialentfaltung. Niemand kommt perfekt auf diese Welt. Du bist kein Fertigprodukt, sondern durchläufst deine eigene Evolution in deinem eigenen Tempo. Keinen einzigen Tag bist du auf dieser Welt, um zu sein, wie es andere von dir erwarten. Es ist das Miteinander, das zählt, das gegenseitige Füreinander. Und das beginnt mit der Fürsorge für dich selbst.
Es gibt Menschen, die das nicht akzeptieren. Übe dich in Konfrontation. Es hat noch niemandem geschadet, für sich einzustehen. Es stärkt dein Bewusstsein für das, was du brauchst: dich und wer du bist, wer du sein willst. Dein Potenzial ist seit Geburt her in dir angelegt.
Vielleicht werden Zeiten kommen, in denen du nicht weißt, wie es weitergehen soll, in denen dir alles sinnlos erscheint und leer. Fehlt dir ein Sinn, fehlt dir in Wahrheit ein Ziel. Es muss dein Ziel sein, erreicht mit deinen Mitteln, minus dem, was andere wollen. Nur so steht unter dem Strich ein Ergebnis, das dir gefallen wird. So überstehst du alle Hindernisse und Zweifel.
Du hast immer das Recht, jemanden nicht zu mögen, so wie jeder andere das Recht hat, dich nicht zu mögen. Dich zu mögen, ist das oberste Ziel – für dich. Du wirst es nicht erreichen, wenn du dir nur dann gefällst, wenn du anderen gefällst, du dich nur dann magst, wenn andere dich mögen.
Prüfe deshalb deine eigenen Gedanken und Ansichten über die Welt. Nicht jeder deiner Gedanken ist wahr, so, wie alle, die von außen kommen, sowohl richtig als auch falsch sein können. Erinnere dich daran, dass jeder seine Einstellungen braucht. Sie geben Halt und versprechen Ordnung. Je flexibler du bleibst und je weniger Glauben du dem schenkst, was du denkst, desto eher wirst du zu dem, was du sein kannst: dein größtmögliches Ich.
Denn du wirst niemals besser sein, als das, was du von dir glaubst. Glaube daran, dass alles möglich ist und alles kann möglich werden. Beschränke dich nicht selbst, nur weil dir deine Gedanken dazu raten.
Hinterlasse der Welt etwas, was dir am Herzen liegt. Teile. Gebe. Inspiriere. Sprich über deine Niederlagen. Zeige, wie du sie überwunden hast. Liebe. Verletzlichkeit ist Teil des menschlichen Seins. Niemand kommt um sie herum. Sie zu leugnen, ist eine der größten Lügen.
Deshalb bewerte Menschen nicht auf den ersten Blick. Du kannst niemals wissen, was jemand gerade durchmacht, welche Kämpfe er auszustehen hat, welche Ängste. So mancher lächelt und sagt, alles wäre wunderbar, während er in Wahrheit verzweifelt. Wir haben alle unsere Sorgen, aber nicht jeder zeigt sie.
Schlussendlich ist hier meine letzte Bitte: Bevor du fällst, falle lieber auf! Auch sein Leben nicht in die Hand zu nehmen, ist eine aktive Entscheidung. Sie lautet: „Ich nehme mein Leben nicht in die Hand, sondern lasse es liegen und mache nichts damit.“ Suche dir Hilfe dafür, wenn du welche brauchst. Gehe einen ersten Schritt und probiere etwas Neues, wenn dich das Alte nicht mehr nährt. Aber handele. Sei dir hier am nächsten und kümmere dich gut um dich. Wenn du das tust, wird sich das Leben dankbar zeigen. Das ist ein Versprechen!
In Liebe,
dein erwachsenes Ich
Janett Menzel
Zum Weiterlesen
“Über die Kunst, allein zu sein” (Janett Menzel, 2016)
“101 Wege aus der Angst” (Janett Menzel, 2018)
“Mein neues Leben ohne Angst” (Janett Menzel, 2020)
“Hör auf! Deine Angst” (Janett Menzel, 2018)
„Was euch die Ruhe stört, dürft ihr nicht leiden. Was euch nicht zugehört müsset ihr meiden. “ (Goethe)
Der hats wirklich gewusst, der Goethe. Und oftmals Abstand gehalten, Übersensibler, Hochbegabter und Emphat, der er war … Und über Angst hat er auch Bescheid gewusst: Erlkönig! Faust! etc.
Habt bitte keine Angst vor ihm, es war ein Mensch, in dem wir uns spiegeln können, der uns durch sein Verständnis Trost gibt. Von wegen hochnäsiger Geheimrat …