Das Kleine Mädchen Muss ist eine Erfindung von Janett Menzel (und daher auch urheberrechtlich sowas von geschützt, dass es saumäßigen Ärger gibt, wenn sie jemand in Auszügen oder vollständig klaut oder gar auf die Idee kommt, ihre Energie zu stehlen). Die Episoden beruhen auf eigenen Erlebnissen und Auseinandersetzungen mit ihrem inneren Kind, dem man nicht immer alles erlauben und schon gar nicht alles glauben muss. So zickig, wie sie auch sein kann: Sie meint es nur gut mit der erwachsenen Janett, auch wenn sie oftmals vergisst, dass wir mittlerweile erwachsen sind. Kurzum: Die Regeln der „Großen“ gelten heute einfach nicht mehr. Aber erklär‘ das mal einer 12jährigen, die stets versucht, brav und gehorsam zu sein, um ihre Ziele zu erreichen!
Freitag, 11:28 Uhr. Die Sonne schien durch mein Balkonfenster und tauchte mein Wohnzimmer in ein warmes, und vor allen Dingen, stilles Licht. Ich saß seit Tagen am Abschluss meines Buches über Einsamkeit und korrigierte die letzten Kapitel.
Mein kleines Mädchen Muss hatte es sich seit kurz nach neun auf dem Sofa gemütlich gemacht und überprüfte die Liste meiner Lebensauflagen, wie jeden Tag. Ich lachte leise, als ich mir meine leere Kaffeetasse schnappte und auf dem Weg in die Küche war.
„Lach nicht! Bei so vielen Aufgaben, muss man gründlich arbeiten. Stell dir nur mal vor, was passieren würde, wenn ich etwas vergesse!“
„Nicht auszumalen!“ rief ich aus der Küche und grinste weiter in mich hinein.
„Solltest du auch mal probieren!“ blubberte sie lautstark. „Ach, und übrigens: Du brauchst einen Mann!“
Mit Entsetzen im Gesicht eilte ich so schnell es ging zurück ins Wohnzimmer.
„Bidde?“
„Das heißt: Bitte! Mit t, nicht mit d!“ korrigierte sie mich.
„Ich wohne in Berlin! Da werde ich jawohl noch berlinern dürfen!“
„Du kommst aus MECKLENBURG-VORPOMMERN!“
„Könnten wir dieses nutzlose Gespräch lassen? Ich will heute noch was schaffen!“ sagte ich, setzte mich wieder an den Schreibtisch und korrigierte weiter mein Manuskript.
„Welches Ziel verfolgst du, wenn du einen Mann kennenlernst? Daten, One Night Stands, eine lockere Beziehung, Freundschaft oder die Liebe fürs Leben?“ las sie mit ernster Stimme vor. In ihren kleinen Händchen hielt sie mein Smartphone.
„Was ist denn das für eine Frage?“ Ich blickte kurz von meinem Laptop auf.
„Ich lese gerade einen Beitrag, in dem steht, dass man sich vier Fragen stellen muss, wenn man Liebe finden will. Das ist die erste“, sagte sie ruhig.
„Und genau deswegen dürfen kleine Kinder nicht mit den Sachen der Großen spielen!“ antwortete ich, rollte mit meinem Schreibtischstuhl zur Couch, riss ihr mein Handy aus den Händen und rollte wieder zurück.
„Hey! Ich lese gerade“, schrie sie wütend. Das kleine Mädchen Muss sprang vom Sofa auf und stellte sich provokant neben mich.
„Es handelt sich hierbei um ernste Angelegenheiten. Wir müssen das besprechen! Du kannst nicht ewig vor einer neuen Beziehung davonlaufen!“
„Ich laufe doch gar nicht davon!“ protestierte ich.
„Im Juli 2015 hattest du das letzte Mal…“
„OKAY! OKAY! Ich erinnere mich. Aber entspann dich…“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Ich werde schon irgendwann jemanden kennenlernen!“
„Irgendwann? I R G E N D…WANN?“ Ihre Stimme wurde wütend, ihr Atem tief und laut, ihre Stirn schmiss sich in Falten. Ich wusste, das hieß nichts Gutes und lenkte deshalb ein:
„Wie lauten eigentlich die anderen drei Fragen?“
Etwas besänftigt hob sie ihr Kinn:
„Zweitens: Welche Eigenschaften und Verhaltensweisen sind absolut inakzeptabel? Drittens: Welche machen dich stutzig und vorsichtig? Und die letzte Frage lautet: Welche findest du anziehend und begehrenswert?“
Mein kleines Mädchen Muss war hervorragend darin, sich eben Gelesenes perfekt einprägen zu können. Sie starrte mich noch immer mit böser Miene an. Nach gefühlten drei Minuten voller Schweigen und prüfendem Gucken, gab ich nach. Es würde ja doch nichts nützen.
„Ist ja gut!“ Ich dachte nach. „Also ich will definitiv niemanden, der mir den ganzen Tag über sinnlose Nachrichten schreibt, weil ihm langweilig ist. Und ich will auch niemanden, der nie Zeit hat oder nur für Sex vorbeikommt.“
„Das beantwortet meine Frage nicht!“ totterte sie zurück. „Willst du eine lockere, oberflächliche Beziehung oder willst du eine Freundschaft oder willst du nur mal gucken, was es da so gibt oder suchst du nach der Liebe fürs Leben?“
„Muss ich das jetzt entscheiden?“ fragte ich überrascht.
„Selbstverständlich!!! Wann denn sonst?“ antwortete sie wütend.
„Wenn es so weit ist?“, erwiderte ich vorsichtig. Zum Glück erinnerte ich mich an meine Überzeugungen und Werte. „Manchmal lernt man jemanden kennen und verliebt sich einfach nicht. Dafür gibt man aber wunderbare Freunde ab. Und manchmal, wenn man glaubt, nur Freundschaft zu wollen, findet man Liebe. Ich habe noch nie gehört, dass große Erwartungen große Ergebnisse nach sich zogen. Guck dir doch die ganzen Online Dating Singlebörsen an! Immer wenn ich irgendwo angemeldet war, dauerte es nicht einmal 24 Stunden, bis ich mich wieder abmelden wollte.“
„Weil du einfach kein Durchhaltevermögen hast!“
„Warum muss immer ich schuld sein? Manchmal sollen Dinge einfach nicht sein!“ verteidigte ich mich.
„Vielleicht hättest du den Mann deines Lebens getroffen, wenn du nur zwei Tage länger dort geblieben wärst. Aber wenn du immer gleich aufgibst, dann kann das ja nichts werden.“
„Ach, schau dir doch die Männer an, die sich dort tummeln. Die Hälfte ist nackt, weil sie glaubt, dass ein schöner Oberkörper alles sei, wonach eine Frau suchen würde. Und die andere Hälfte ist so sehr damit beschäftigt, irgendjemanden zu finden, damit sie nicht mehr allein sind, dass sie vollkommen vergessen, dass dieser irgendjemand auch zu ihnen passen sollte. Und beim ersten kleinen Problemchen machen sie sich ins Hemd und dann aus dem Staub!“
Erstaunlicherweise wusste mein kleines Mädchen Muss dazu nichts zu sagen.
„Wie dem auch sei: Wenn du einmal im Jahr für 24 Stunden nach einem Mann suchst, wirst du für den Rest deines Lebens allein bleiben. Wir sollten das schleunigst ändern! Am besten noch heute!
„Wir?“
„Ja, ich werde dir natürlich helfen!“
„Natürlich“, wiederholte ich mit Schrecken in der Stimme.
Ihre rehbraunen Augen begannen zu leuchten und auf ihren kleinen Lippen zauberte sich ein Lächeln.
„Wir legen dir erst einmal ein neues Profil auf allen Singlebörsen an. Und dann musst du einfach nur ein paar simple Regeln befolgen. Erstens: Du…“
„Auf gar keinen Fall!“ Noch mehr Regeln ertrug ich nicht. „Wenn ich mich auf jemanden einlasse, dann weil er mir gefällt und weil ich ihm gefalle, so wie ich bin. Lass uns die traditionellen Wege nehmen.“
„Ach! Und die wären?“ entgegnete sie überheblich.
„Na draußen, du weißt schon, an der frischen Luft, unter dem Nachthimmel, bei einem lauen Lüftchen im Sommer. Im Sommer ist den Menschen vielmehr nach Liebe, als im Winter.“
„Aber es ist Winter!“ antwortete sie lautstark.
„Morgen ist Frühlingsanfang!“ korrigierte ich sie. „Und übrigens ist Alleinsein kein Weltuntergang“, klärte ich sie auf.
Natürlich wusste ich, dass man durch Rückzug keine neuen Menschen kennenlernen würde, aber ich war auch kein Fan vom krampfhaften Suchen nach der großen Liebe.
„Die meisten lernen sich im Job oder durch gemeinsame Freunde kennen. Du arbeitest Zuhause und durch deine Freunde wird das auch nichts. Also scheidet beides aus. Nun dann…“ Sie räusperte sich. „Ich bin gespannt auf deine Vorschläge!“
Dann schnappte sie sich einen Stift vom Schreibtisch, flitzte mit ihrer Papierrolle voller Regeln in der Hand zurück zur Couch und war bereit für Notizen.
„Äh… Okay. Also…“ Ich dachte nach. „Speed Dating, Veranstaltungen aller Art, neue Kneipen oder Restaurants ausprobieren, neue Kontakte knüpfen in der Freizeit, an Kursen teilnehmen oder sich für einen guten Zweck engagieren“, schlug ich vor. „Oder neue Hobbys natürlich und…“ Mir fiel nichts mehr ein. „Und so weiter eben…“
„Und was davon willst als Erstes du tun?“ fragte sie mich gespannt.
Auf nichts davon hatte ich wirklich Lust. Ich atmete tief ein und schaute sie erbarmungsvoll an. Doch ihr Blick blieb ernst und fordernd. Ich schluckte meine Bredouille herunter.
„Speed Dating?“ fragte ich schließlich ängstlich. „Annette und ich hatten letztens überlegt, ob wir das mal ausprobieren.“
Die Augen des kleinen Mädchens Muss wurden groß und füllten sich mit jeder Sekunde, die ich auf ihre Antwort wartete, mit noch mehr optimistischer Vorfreude.
Dann sagte sie ruhig, während sie belehrend ihren Stift in der Luft hin- und herfuchtelte: „Aber das ist kein Spaß! Jemanden kennenzulernen und ihn für sich zu gewinnen, muss gut vorbereitet sein!“ erklärte sie mir. „Du musst einige Regeln einhalten. Ich werde umgehend welche zusammenstellen!“
„Gibt es etwa noch keine Regeln dafür?“ fragte ich überrascht. Ich würde natürlich jede einzelne ignorieren. Aber Manipulation meiner kleinen Kritikerin erschien mir sinnvoll. Immerhin wollte ich heute noch mein Buch fertigstellen.
„Doch, doch! Natürlich! Regel Nummer 1: Du musst immer hübsch aussehen. Regel Nummer 4: Du musst dich anstrengen. Regel Nummer 5: Du musst Sven vergessen. Regel Nummer 11: Du musst…“
„Okay, okay!“ unterbrach ich sie. „Das…sind ziemlich viele Regeln, findest du nicht?“
„Es gibt noch mehr! Oh, aber das hier ist die wichtigste von allen“, sagte sie und schaute ehrfürchtig von ihrer Papierrolle zu mir auf. „Du darfst keine Angst haben!“
„Jeder hat Angst, jemandem, den man mag, nicht zu gefallen!“ korrigierte ich sie.
„Nun, das mag sein, aber sonst ergibt doch Regel 29: Du darfst keine Fehler machen! gar keinen Sinn!“
„Perfektion ist Sache der Götter. Jeder Mensch macht Fehler.“
Sie schaute mich missmutig an.
„Aber Regel Nummer 31: Du musst immer stark sein oder wenigstens so wirken!“
„Wer will denn jemanden, der immer stark ist? Dann muss man ja auch immer stark sein!“
Wieder schaute sie mich perplex an.
„Aber Regel Nummer 36: Du musst immer die Kontrolle behalten!“
„Kontrolle zerstört Liebe. Liebe und Ketten vertragen sich nicht!“
„Aber…“ Sie schaute mich durcheinander an. „Regel 40“, schrie sie. „Du musst Menschen beeindrucken! und Regel 68: Du musst immer lieb, brav und nett sein.“
„Ich glaube, es ist besser, wenn man authentisch ist…“
„Jetzt ergibt ja gar nichts mehr Sinn!“ Sie schien traurig und enttäuscht und ging bestürzt ihre Liste durch.
„Vielleicht solltest du deine Regeln überdenken!“ schlug ich vor.
„Das würde alles durcheinanderbringen! So geht das nicht!“ sagte sie.
„Aber das ist die Realität. In der Liebe ist alles erlaubt! Wir alle fürchten uns, anderen Menschen nicht zu gefallen, nicht zu genügen oder verlassen zu werden. So ist die Welt nun mal.“
Ich hatte mich in meinen Schreibtischstuhl zurückgelehnt und beobachtete mit Freude, wie das kleine Mädchen Muss versuchte, sich darauf einen Reim zu machen.
„Das ist…in der Tat…problematisch“, stotterte sie.
Ich lächelte und wartete geduldig auf ihre Reaktion.
„Und was macht man dagegen?“ fragte sie hektisch, während sie mich mit ihren weit aufgerissenen Augen anstarrte.
Ich zuckte mit den Achseln. „Nichts. Nur durchstehen, hoffen und vertrauen.“
„Nun, vielleicht wäre es gut, wenn ich…einige Anpassungen der Regeln vornehme!“ schlussfolgerte sie und sah mich hilfebedürftig an.
„Das klingt mir nach einer sehr guten Idee!“ grinste ich, drehte mich um und widmete mich endlich wieder meinem Buch.
Das kleine Mädchen Muss starrte noch eine Weile Löcher in die Luft, bevor sie sich mein Smartphone nahm und drei Wörter bei Google eintippte:
Hoffnung und Vertrauen.
P. S. Aus dem Speed Dating kam ich zwar nicht mehr raus. Aber mein Buch habe ich fertiggestellt.
© Janett Menzel, 2017
Bild: New York Zoos and Aquarium
Hier geht’s zur ersten Episode des kleinen Mädchens Muss: >> Das kleine Mädchen Muss: Episode 1 – Der innere Kritiker
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