Zu wissen, dass etwas nicht stimmt und man Hilfe benötigt, kann Angst machen. Doch nicht nur das: Vielen jagt es eine noch größere Angst ein, sich einen Therapeuten zu suchen und einem fremden Menschen erklären zu müssen, wie es einem psychisch geht: Wie wird derjenige reagieren? Wird er mich belächeln? Mache ich etwas falsch? Worauf muss ich überhaupt achten, wenn ich einen Psychologen suche? Auch die empathielosen Reaktionen des sozialen Umfelds halten viele von einer Therapie ab. Nicht nur outet man sich als „psychisch krank“. Man schämt sich für seine Herausforderungen und Symptome, glaubt vielleicht sogar, man müsste es allein bewältigen. Tun man das nicht, kommt man sich unfähig und schwach vor. Es ist sowohl für Männer als auch Frauen schwer, endgültig den Schritt in die Therapie zu wagen. Möge dir dieser Beitrag helfen.
Muss ich in Therapie gehen?
Du musst gar nichts, doch es hat gehörige Nachteile, wenn du dich für eine Therapie entscheidest:
Die Wahrscheinlichkeit, dass deine Symptome schlechter als besser werden, ist größer als umgekehrt. Die Wahrscheinlichkeit, dass du morgen ohne Hilfe noch weniger Kraft hast, ist hingegen groß. Vermeidungsverhalten merkt sich das Hirn leicht, positive Veränderungen werden schwerer. Je mehr Stresshormone du in deinem Körper hast, z. B. durch
- Schuldgefühle, weil du es allein nicht schaffst oder Hilfe brauchst
- Angst und Traurigkeit über die Situation
- Wut, weil es dich getroffen hat bzw. du keine Lösung findest
desto weniger Ressourcen hat deine Psyche, es zu überwinden.
Einzige Ausnahme könnte sein: Du nutzt deine Wut als Katalysator oder suchst dir eine größere Angst, um Wege zu finden, z. B. die Angst, dass es ewig so bleiben könnte. >> Leseempfehlung zur Methode „Die größere Angst“
2) Angenommen, deine Psyche erkennt die Störung als einen guten Weg, damit du
- dich mehr um dich kümmerst
- mehr den Fokus auf dich legst (statt auf andere)
- deine Herausforderungen angehst statt „über“ sie hinweglebst
- dich von „Störenden“/Störendem in deinem Leben trennst
- dich selbstwirksam und erwachsen fühlst, unabhängig und frei:
Diese Ziele sind besser in einer Therapie umsetzbar. Man kann dort selbst eine Scheiß-egal-Einstellung lernen, wenn es das ist, was man braucht. Oft ist eine Störung eine gut gemeinte, wenn auch scheinbar sinnfreie Art und Weise deiner Psyche, dir zu sagen: So, jetzt lass uns mal Butter bei de Fische mach’n, ja? So geht das nicht weiter. Das ist nicht gesund für dich. Man kann in Therapien Methoden lernen für das, was man braucht – ohne störende Symptome. Und das ist der Sinn. Der Sinn ist nicht, ein Vermeidungsverhalten einzustudieren oder um psychische Symptome herumzuleben.
Exkurs – Krankheitswert einer psychischen „Störung“
(Ein Begriff der Psychologie und bittere Pille für alle Betroffene – auch für mich, als ich noch Agoraphobie mit Panikattacken hatte.)
Eine Störung erlaubt oft, etwas nicht zu müssen/können/dürfen, solange man sie hat. Dieser Nutzen hält dich in Angst, Depression, Ess-, Zwangsstörung usw. gefangen. Die psychische Belastung hat aber maßgebend Einschränkungen für DEIN Leben. Sie könnte dich von der Außenwelt abschneiden (Agoraphobie, Panikstörung), dir das Gefühl der Unfähigkeit/Unwirksamkeit/Wertlosigkeit (Depression) geben oder dass du nur da wärst, um für andere da zu sein (emotionale Erschöpfung), es aber nie um dich gehen dürfe, du schlank sein müsstest (Essstörung), um geliebt zu werden, du nichts im Griff und unter Kontrolle hättest, dir nichts zutrauen dürftest usw. Leider liegt hier oft die Krux: Statt etwas „einfach so“ zu machen und zu sein, was Kritik, Ablehnung, Angst, Wut, Scham, Schuld, Traurigkeit usw. auslösen könnte, umgehen wir das gesunde Verhalten zu oft – ein bisschen wie die Grippe, die uns flachlegt, wenn man zu viel gearbeitet hat.
Natürlich willst du diese Symptome nicht, die Störung nicht, die Einschränkungen. Das glaube ich dir, mir ging es genauso. So ging es uns allen. Das erlöste uns nicht davon, genauer hinzusehen: den Nutzen, sog. Krankheitswert, anzusehen. Es ist ein komplexes Thema. Hier das Wichtige: Deine Psyche könnte X als „wertvoll“ erachten, weil du dann
– in einer Beziehung bleiben könntest, die schon länger unbefriedigend, emotional/physisch gewalttätig oder auslaugend ist
– du keine Konflikte/Auseinandersetzungen ertragen müsstest
– du dich nicht schlecht, schuldig oder beschämt fühlen würdest
– du deine Bedürfnisse nicht priorisieren müsstest (Kritik & Beschuldigungen blieben aus)
– du vieles unter Kontrolle behalten könntest, einschl. Harmonie
– sich wenig oder Schlechtes besser anfühlt als gar nichts
– du dir etwas bewahren kannst (Status, Anerkennung, Aufmerksamkeit
oder Ansehen/Reputation, Liebe, Zugehörigkeit)
– du so nichts falsch machen würdest in den Augen anderer
– dir niemand zu nahekommen würde bzw. sich distanzieren würde (du dich nicht mit deiner Angst vor Trennung auseinandersetzen müsstest, nicht allein sein müsstest – oder die Angst, es zu sein, nicht aushalten müsstest)
Jede/r hat seine eigenen Dynamiken. Sie beruhen entweder auf dem Ego (Ego hat jede/r, kein Grund zur Besorgnis!) oder etwas „Falschem“, was wir als „richtig“ gelernt haben/uns so beigebracht wurde. In vieler Hinsicht basiert der Nutzen auf Erfahrungen während der Kindheit (Wenn du so und so bist, wirst du geliebt.) oder Beziehungserfahrungen im späterem Leben (So und so erhalte/bewahre ich mir Zugehörigkeit und Aufmerksamkeit, Anerkennung usw.).
Die Suche nach dem richtigen Therapeuten: So findest du ihn und das kannst du beachten
Du hast Angst vor Therapeuten – oder Ärzten im Allgemeinen -, fürchtest, dass sie dich nicht verstehen oder ernst nehmen oder belächeln würden, dir das Gefühl geben könnten, mit dir würde etwas nicht stimmen? Du willst diese Art der Aufmerksamkeit eigentlich gar nicht? Du weißt nicht, was du sagen sollst, wo du suchen sollst?
Eine wie auch immer geartete Störung bedeutet Verantwortung – sei es, dass du sie endlich übernehmen sollst (Selbstverantwortung) oder du Verantwortung endlich abgeben lernen sollst (Hilfe annehmen, dir die richtigen Personen für dein Leben suchen usw.) Das gilt besonders bei der Wahl deiner Ärzte/Therapeuten: Betrachte sie wie eine neue Wohnung oder ein neues Auto, das du dir ansiehst. Wenn es dir nicht gefällt, würdest du es nicht nehmen.
Schritt 1. Rufe dir im Internet eine Therapeuten-Datenbank auf oder gehe zu deinem Allgemeinmediziner und lass dir eine Überweisung geben. Besprich entweder mit deinem Hausarzt, was du glaubst zu haben/immer noch hast, oder frage bei einem Therapeuten nach verfügbaren Kapazitäten an (hier oft Anrufbeantworter -> Nachricht hinterlassen & um Rückruf bitten!).
Schritt 2. Kommuniziere so klar und kurz wie möglich, wenn du deine aktuelle Herausforderung beschreibst:
(Was?) Ich befürchte, dass ich … (eine Panik-, Ess-, Zwangsstörung, Depression usw.) entwickelt habe.
(Wieso?) Ich habe Panikattacken, erbreche absichtlich, kontrolliere alles dreifach, bevor ich das Haus verlasse, bin oft ausgelaugt und fühle mich zu schwach für einfache Erledigungen usw.
(Seit wann?) Ich habe das seit … (Zeitraum, Häufigkeit)
Schritt 3. Such dir einen Arzt/Therapeuten, der dich als Mensch wahrnimmt. Gib darin nicht auf, trotz schlimmer Erfahrungen. (Ich hatte Dutzende, aber habe doch Ärzte gefunden, die zu mir passen.)
Gute versus schlechte Therapeuten/Ärzte
Meine Mutter (Krankenschwester) hat früher zu mir als Jugendliche immer gesagt: Du darfst alles werden, Netti, aber du machst nichts im medizinischen Bereich, klar? Sie weiß um die negativen Seiten. Das trifft den Nerv vieler, die schlechte Erfahrungen mit Ärzten aller Art gemacht haben. Einige sind unfreundlich, kurz angebunden, übergriffig, respektlos, besserwisserisch bei deinem Körper, ignorant, weigern sich, zuzuhören oder deine individuellen Anliegen/Herausforderungen bei einer Therapie zu berücksichtigen. Das finden wir bei Architekten, Lehrern, Buchhaltern, Büroangestellten usw. auch. Ärzte/Therapeuten sind leider auch nur Menschen, die Probleme bzw. einen schlechten Tag haben oder „keinen Bock mehr“ – so, wie wir alle dann und wann. Das soll weder Fehlverhalten gutheißen noch rechtfertigen.
Klare und kurze Kommunikation kann auch hier helfen:
– „Ich glaube, wir missverstehen uns. Ich suche nach einem Arzt, der …“
– „Ich möchte eine Therapie ohne …“
– „Ich glaube eine andere Therapie wäre optimaler für mich.“
– „Ich glaube, ich bin bei Ihnen nicht gut aufgehoben. Ich werde mich nach einem anderen Arzt umsehen.“
Nur zu oft halten wir den Mund, weil wir Ärzte als überhohe Respektpersonen sehen, nicht als Menschen. Ich habe mir das bei meiner Arztsuche abgewöhnt, weil mir nichts anderes mehr blieb.
In unserer heutigen Zeit nehmen viele Ärzte, um dem Ansturm an Patienten Herr zu werden, die erstbeste, am häufigsten auftretende Ursache einer Krankheit – und die eine Therapie, die im Schnitt den meisten hilft (nach ihrer Erfahrung). Viele sind (so meine Mutter) aber genervt wegen „Simulanten“, die nur eine Krankschreibung wollen, echten und unechten Hypochondern (Personen, die eine existente Hypochondrie haben versus solche, die primär Aufmerksamkeit wollen, aber keine Symptome haben.) Viele Ärzte würden sich nicht trauen, das anzusprechen). Empathie, das Vermögen, quer zu denken sowie das große Ganze zu sehen, sei eine Frage der Zeit und Mittel. Zudem gebe es Ärzte, die primär symptomorientiert arbeiten (Ah, Grippe! Hier, ein Medikament.) versus ganzheitlich.
Vom „Engel in weiß“-Mythos müssen wir uns verabschieden. Wir sind alle nur Menschen. Finde deshalb lieber den richtigen Menschen (auch wenn es nervt), statt einen Arzt, der … Es ist wie mit der Partnersuche: Nicht gleich der/die Erstbeste ist geeignet. Manchmal lohnt sich das Warten. Oft lohnt sich vor allem ein klares, direktes Gespräch, in dem du deine Grenzen kommunizierst, bzw. die Frage, ob ihr zwei gut zusammenpasst. Besonders bei Therapeuten kann man zumindest davon ausgehen, dass sie Psychologie studiert haben, weil sie Personen wie dir helfen woll(t)en. Solltest du dennoch auf jemanden treffen, der dich belächelt oder nicht ernst nimmt, kommuniziere es, berate dich mit deiner Krankenkasse und/oder suche dir ggf. auf Selbstzahlerbasis jemand anderes, bis du einen neuen gefunden hast. Finde dich aber nie mit dem Zweitbesten ab. Gib nicht auf. Such weiter nach Lösungen und Menschen für deine Heilung.
Was werden die anderen denken und sagen?
Machst du dir Sorgen, was Freunde, Familienmitglieder und/oder Kollegen denken, wenn sie erfahren, dass du in Therapie bist? Viele nehmen es sehr viel positiver auf, als man geglaubt hätte. Die Gefahr, dass es anders kommt, bleibt jedoch bestehen und ist immer gegeben. Hier meine Tipps:
1.) Verschweige es gegenüber für dich kritischen Personen und vertraue dich nur solchen an, von denen du Verständnis bekämst.
2.) Kommuniziere klar und deutlich, dass XYZ dich einschränkt und du es als deine Aufgabe empfindest, es aus dem Weg zu räumen.
3.) Wenn jemand meint, du müsstest das allein bewältigen können oder dich bewertet, weil du es nicht allein schaffst bzw. Krankheit XYZ überhaupt hast: Jemandem, der das noch nicht erlebt hat, steht keine Meinung dazu zu. Das kann man auch so sagen. Wer nicht weiß, wovon er spricht, sollte gar nicht erst sprechen.
4.) Distanziere dich von verständnislosen Menschen aus genau diesem Grund: Solange du kein Verständnis zeigst, möchte keinen Kontakt.
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