Nachdem ich den Sinn und Zweck meiner Agoraphobie und Panikstörung erkannte, bin ich (leider und zum Glück) schlauer. Seit 2013, als ich beide Auswüchse von Bedürfnis und Angst in meinem Leben begrüßen musste, weiß ich es besser, aber rätsele noch immer. Ich denke seitdem viel über mich und meinen Platz in der Welt nach. Wenn ich sage: Ich habe dazugelernt, dann meine ich, dass ich alle Erkenntnisse nur noch schlecht „da sein lassen kann“, ohne weiterzugehen. Ich bin schlauer, weil ich gelernt habe, dass Agoraphobie bedeutet, sich seinen eigenen Platz im Leben zu suchen und einzunehmen. Wie kann ich dann einfach hier stehen bleiben? Schlauer bin ich auch, weil ich heute weiß, dass Panikattacken ein innerer Aufschrei sind, der an das Verdrängte, Ungelebte, Schwache erinnern soll. Kurz: an den eigenen Schatten. Wie kann ich dann weiterhin so tun, als wäre das damalige Ich auch mein jetziges?
Ich habe seit Mai 2015 einige Blogposts dazu verfasst, wie grandios und heilsam es wäre, wenn wir stets unsere Gefühle ausdrücken würden. Und wenn ich „grandios“ sage, meine ich auch GROßartig. Es ist eine große Sache, ja ein dickes Ei, ein gekonnter Schuss durch die Blume ins Knie für all diejenigen, die sich selten an ihre Gefühle herantrauten. Es ist nichts Kleines, nichts Kindliches, nichts „Das mach’ ich mal eben einfach so!“ Nein, es grenzt an Wahnsinn, heute zu sagen:
„Ich traue mich nicht. Ich habe Angst. Ich fürchte mich. Ich fürchte mich, weil es nur um dich geht. Ich habe Angst, weil es deine Ziele sind, aber nicht meine eigenen. Ich traue mich nicht, dir zu sagen, dass ich dabei bin, mich gänzlich selbst zu verlieren: im Job, im Leben, im Kampf, in dir, in Unternehmen, in anderen. Ich habe Angst, so zu sein, wie alle anderen – brav sozial legitimiertes Verhalten, gehorsam in Bezug zu dem, was andere von mir erwarten. Ich kann mich kaum noch fühlen. Ich muss rauchen, muss trinken, essen, Drogen nehmen, Sex haben, Sport machen, arbeiten, um in eine erträgliche Welt zu fliehen. Ich habe Angst, dir zu sagen, dass ich es anders will. Ich habe Angst, dir zu sagen, dass ich Angst und Panikattacken bekomme, wenn ich Dinge tue, die mir nichts bedeuten. Ich spüre die Enge in meinem Körper, wenn ich mich mehr um deinen Willen kümmere, als um meinen.“
Egal, ob diese Sätze an Unternehmen, an Arbeitgeber, an Arbeitnehmer, an Familienmitglieder, Freunde oder Partner gerichtet sind. Es ist der eine Satz: „Ich habe Angst, dir (und mir) zu zeigen, wer ich wirklich bin.“ Den auszusprechen, grenzt an Hochmut. Es grenzt an Wahrheit. Und was ist heute schon noch wahrhaftig? Wer hat heute noch den Mut, wenn er zugleich den Fall fürchten muss? Wir hängen irgendwie fest. Zwischen den Stühlen aus Müssen-Sollen und Wollen. Wir sind zu wandelnden Paradoxien geworden.
Wir tun, als ob, obwohl wir nicht sind.
Was sind wir also? Was war ich?
Ich bin schwach. Wir sind alle schwach.
Ich bin stark. Wir sind alle stark.
Irgendwo dazwischen liegt die Wahrheit. Aber es beruhigt, dass der allseits präsente Buddhismus uns ermutigt, genau diese Mitte wiederzufinden. Doch unsere Gesellschaft zwingt uns, schwach zu sein und schwach zu bleiben. Wir trauen uns viel zu selten, uns hinzustellen und zu sagen: Was ich bin, bist auch du. Wenn du mir sagst, wie ich zu sein habe, darf ich dir dann auch sagen, dass ich so nicht sein will?
Es gibt da dieses Umkehrspiel, was Dr. Rüdiger Dahlke sehr eindrucksvoll in seinem Buch Das Schatten-Prinzip: Die Aussöhnung mit unserer verborgenen Seite erklärt: Was du anderen vorwirfst, zu sein, wirfst du in Wahrheit dir selbst vor. Was du an anderen begehrst, bewunderst und liebst, begehrst, bewunderst und liebst du in Wahrheit an dir selbst. Nur: Du hast Angst, es dir einzugestehen und zu dir und dem zu stehen. Wenn wir also sagen: „Die Gesellschaft ist schuldig. Die Wirtschaft hat die Schuld. Die Unternehmen und ihr Leistungsbestreben sagen uns, wir müssten uns fügen und für sie arbeiten, trügerische Identifikationen erdenken, um im Wahn um Macht, um Geld und Erfolg zu leben und zu sterben.“ heißt das in Wahrheit: Du sagst es dir. Die Entscheidung trifft in Wahrheit jeder Einzelne für sich selbst. Denn wir fürchten Individualismus. Wir fürchten – wie zu oft – Trennung.
Wir fürchten den Tod.
Nichts mehr auf der Welt ist enger und verbundener mit Angst als der Tod. Endlichkeit. Vergänglichkeit. Verlust. Zerfall. Auflösung. Zerstörung. Alles das widerstrebt unseren Herzen, unseren Bedürfnissen, unserer Sehnsucht nach Liebe und Geliebtwerden, Wollen und Wohlwollen.
Wir folgen lieber fremden Entscheidungen und Idealen. Die wenigen Menschen, die uns gerade vorbildhaft beweisen, dass sie es anders machen, werden – schwupps – kategorisiert und ja, stigmatisiert, mit Eigenschaften bedacht, teils mit Bewunderung und teils mit Zynismus überschwemmt, solange, bis wir ihren Erfolg nicht mehr leugnen können. Digitale Nomanden, Hochsensible, Introvertierte, Künstler, Hochbegabte, Nerds, Cocooner, Menschen ohne zig Studienabschlüsse und attestiertem IQ über 130, die die mörderischten Dinger auf die Beine stellen: Sie zeigen jedem anderen, angepassten und gehorsamen Menschen auf der Welt beide Stinkefinger gleichzeitig und knocken uns mit unserem fremden Gedankengut mit einem Augenzwinkern aus.
Schaut euch die vielen Menschen im Netz an, die uns erklären wollen, wie wir im Netz Geld verdienen, um irgendwo in der Südsee mit dem Laptop und Hotspot darüber zu sprechen, wie man im Internet von der Südsee aus Geld verdient. Pure Provokation. Reines Gold (und viel Lüge), aber die Sehnsucht springt an. Sie entzündet sich bei dem Gedanken, die wir alle teilen: Freiheit und Frieden. Sein dürfen und machen, was wir uns erlauben (wollen). Und ich sterbe beinahe jedes Mal vor Neid, wenn ich einen Menschen kennenlerne, der genau das macht und sich genauso verhält, wie sich ALLE Menschen auf dieser Welt verhalten müssten. Weil sie es dürfen. Eigensinnig und selbsterhalten. (Das Wort gibt es noch nicht, ich weiß.)
Wir stünden zu uns selbst. Ohne Diskussion. Wir stünden für unsere Gefühle und Sehnsüchte ein. Stattdessen grämen wir uns in Selbstmitleid und Scham, Traurigkeit und Furcht, wagen nicht zu viel und wühlen im Wenig, das wir uns zugestehen: Würden wir uns Gefühle erlauben und einen Pfiff drauf geben, was der Gegenüber denkt und möchte, dann gäbe es in meinen Augen weder Depressionen, noch Angst. Es gäbe keinen Stress mehr, keinen Kampf, keine Mühe. Jeder würde sich dort einfügen, wo er glaubt, hinzugehören. Jeder würde an den Orten der Welt leben und aufblühen und investieren, was ihm zu seiner Geburt an Talent und Genie gegeben wurde.
Aber wir wollen nicht traurig sein. Wir wollen keine Angst haben.
Wenn wir in der Schule (wie ich finde, das sehr nützliche Fach: Menschliche Gefühle und Emotionen im Alltag) lernen würden, könnten wir mit uns und der Welt im Reinen und in Frieden leben. Nichts würde sich anhäufen, nichts würde eskalieren. Es würde geheult werden, es würde über Angst gesprochen werden. Es würden Visionen in die Welt geschickt und Verrücktes in die Kultur einziehen. Wir alle wären so bereichert mit den Gedankenwelten und der Kraft aus Träumen und Wünschen aller Menschen. Aber wir geben nichts auf Ver-rückt-es. Alles braucht seinen (zugeordneten) Platz. Alles ist Kanon, ist Knigge, ist Kodex.
Ich stimme Dr. Dahlke zu: Der Schatten der Menschen (mithin jedes Gefühl, dass, ob positiv oder negativ, ungel(i)ebt ist und verdrängt wird) trägt sich ins Außen. Projektion wie sie im Buche steht. Was wir in uns tragen, manifestiert sich in unserem Umfeld. Die Traurigkeit der Menschen, unterdrückt und so still, treibt wie Mr. Hyde in Form von Depressionen ihr Unwesen. Ihre eigenen Seiten, die ihnen verboten wurden, drängt sie in die Flucht in Form von Panikattacken. Jemand sagt uns lange genug, wir seien nichts wert, müssten dies und das tun, sonst… und wir sind nicht Mensch genug, um zu sagen: Es tut mir leid, dass du denkst. Was ist passiert? Kann ich etwas für dich tun?
Sind Angst und Depression also nur Geschwüre, gewachsen aus verdrängten und unausgesprochenen Gefühlen?
Wen würde es dann noch wundern, dass wir in der Mehrzahl implodieren, statt explodieren? Depression und Angst, besonders Panik, sind in meinen Augen reine und gewaltige Implosionen. Sie zielen nicht nach außen, sind bersten im Innern. Und möge Gott dafür sorgen, dass niemand unsere Schwäche bemerkt und erkennt!
Ich wünsche mir etwas anderes. Um den Bogen zu den anfangs implizierten Fragen zu spannen: Was kannst du für dich tun, um zu verstehen, dass deine Gefühle dir durch Angst und Traurigkeit zeigen wollen, dass du GEFÜHL bist und GEFÜHL sein darfst? Lässt sich Traurigkeit und Angst gesellschaftsfähig machen, ohne dass wir ein psychotherapeutisch, klassifiziertes Störungsbild (natürlich klinisch) festgelegter KRANKHEITEN benötigen, um mit unseren Gefühlen umzugehen?
„Erste Regel für den Notfall: Null Emotionen“
Ich hatte letzte Woche einen Ohrwurm der 80er Jahre-Band Paso Doble: Computerliebe. Der Text geht ja so:
„Die Module spielen verrückt.
Mensch, ich bin total verliebt.
Voll auf Liebe programmiert. Mit Gefühl.
Schalt‘ mich ein und schalt‘ mich aus.
Die Gefühle müssen raus.
Ganz egal, was dann passiert.
Ich brauch‘ Liebe.“
Auch 30 Jahre nach Erscheinen des Liedes stimmt es noch immer: Wir lassen und wollen uns ein- und ausschalten. Kein Wunder, dass es mir so liebenswert erschien, wie die Sängerin Rale in dem Video mit ihrem Po wackelnd dasteht und lächelnd singt: Die Gefühle müssen raus. Ganz egal, was dann passiert: Ich brauch‘ Liebe.
Die Liebe, die wir brauchen und wiederentdecken müssen, ist die Liebe zu uns selbst. Achtsamkeit, Bewusstheit, Stille-Retreats, Schweigeklöster, Meditationen und Yoga, Schwimmen mit Delfinen, Schreiben, Atemtechniken, Ausmalbücher für Erwachsene: Alle diese angesagten Methoden wollen darauf hinweisen, dass wir zurück in unsere Körper müssen. Zurück zu unserem Gefühl. Hineintauchen in unsere Welten, in denen wir eigene Meinungen und eigene Gefühle wiederentdecken und in ihnen schwimmen dürfen. Sie signalisieren uns: Weg mit Selbstoptimierung und Zeitmanagement. Weg mit den zig neuen Weiterbildungen und erstklassigen Studienabschlüssen. Weg mit Schubladendenken und Fremdgefühlen.
Oder wie erst kürzlich Veit Lindau mit seinem neuen Buch aufrief: Werde verrückt.
Unsere Zeit ist gekommen, um zu verstehen, dass wir keine Psychosen, Neurosen oder andere Störungsbilder mehr brauchen, um Angst und Trauer haben zu dürfen. Die Zeit ist reif, um zu unseren Gefühlen zu stehen, sie zu bejahen und vom Berg hinab ins Tal zu brüllen:
Die Gefühle müssen raus. Ganz egal, was dann passiert. Ich brauch‘ (meine) Liebe.
In diesem Sinne: Viele selbstliebende Grüße,
Eure Janett
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