Introvertierte Menschen: Bedeutet Introversion „unsozial“? Nein!

Liebst du auch Zeiten des Alleinseins? Am Wochenende mal nicht unterwegs zu sein, sondern mit einem guten Buch oder Film die Zeit zu Hause zu verbringen, ausspannen, entspannen, Frieden und Verbindung zu dir selbst spüren. Ist das unsozial? Nein, nur introvertiert. Und du bist damit nicht allein! Introvertierte Menschen kümmert die Umwelt zwar oft sehr und doch lieben sie es, hin und wieder allein in der Natur zu sein, allein am Meer zu sitzen, allein spazieren zu gehen, am liebsten dort, wo niemand sonst ist. Um mit mir zusammen zu sein – ohne Gesprächspartner -, um Energie zu tanken. So ist das eben mit Introversion. Während Extravertierte Energie aus dem Zusammensein mit anderen tanken, ist Introversion das Gegenteil: Es entzieht Introvertierten Energie.

Viele Introvertierte haben dabei keine „Probleme“ mit Menschen per se: Sie meiden Menschen bewusst nur dann, wenn diese zum Beispiel unnötig laut sind, viel Aufmerksamkeit brauchen, lügen, sich verstellen, über oberflächliche Themen reden oder einem im wahrsten Sinne des Wortes „auf die Nerven“ gehen – meint: Energie ziehen. Introvertierte mögen leise Menschen. Sie legen sich ungern in überfüllte Parks und kommen mit engen, vollen Plätzen – Menschenmassen – nicht zurecht. Sie scheuen Lärm und viel Trubel, weil sie eine Grundstille und Grundharmonie brauchen.

 

Introvertierte Menschen sind zwar anders, aber keineswegs schlechter als extravertierte

introvierte sind anders aber nicht unnormal

Viele extravertierte Menschen rollen über introvertierte Menschen die Augen. Nicht nur im Beruf, auch bei der Partnersuche, scheiden sich hier zumeist die Geister. Mittlerweile hat sich zwar der Begriff „ambivertiert“, also die Mischung aus beiden, etabliert. Aber das hat leider wenig an den Vorurteilen und Bewertungen geändert.

  • „Sei nicht so sensibel.“
  • „Geh doch mal mehr unter Menschen.“
  • „Geh mehr raus.“
  • „Sei nicht so unsozial.“
  • Sei nicht dies, sei nicht jenes.

Man möchte beinahe á la Keanu Reeves antworten:

„Ich hasse es, wenn mich Leute fragen: „Wieso bist du so still?“ Weil ich’s eben bin. So funktioniere ich. Ich frage Leute ja auch nicht: „Wieso redest du so viel?“

Viele Extravertierte möchten fast ständig unter Menschen sein, empfinden es als Belastung, allein zu sein und haben Probleme, sich selbst die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie sich wünschen. Doch viele glauben noch immer, leise Menschen seien das gesellschaftliche Problem. „Ich finde, dass meine Art richtig ist und deine falsch. Ändere dich“, schreien sie innerlich. Was sie nur schwer verstehen können, ist, dass sich introvertierte Menschen nicht nur nicht ändern können. Ihre Gehirne sind anders strukturiert. Sie wollen sich auch in den meisten Fällen gar nicht anpassen. Sie sehen so gar keinen Sinn darin.

Ich kann nur sagen, dass es schon einiges gibt, das ich gern tun würde, wenn ich es nur könnte. Ich würde gern mal auf ein Konzert in die Waldbühne gehen, wo Tausende Menschen hineinpassen, und mich null um die Energie anderer scheren – einfach weil ich sie gar nicht bemerke. Ich würde gern in der Oper ohne Ohropax sitzen, weil es mir nicht zu laut wäre, sondern je lauter, desto besser. Ich wäre gern völlig entspannt damit, wenn mein Nachbar hustet, 200 Flugzeuge am Tag über meinen Kopf hinwegrauschen, draußen die Anwohner grölen und in den Öffis eine Art Privattreffen stattfindet – immerhin weiß ich über einige Fahrgäste nach der Fahrt mehr als über meinen Nachbarn. Es wäre mir am liebsten nicht zu viel. Ist es aber.

 

Introvertierte Sensitivität und Sensibilität

mit introversion umgehen

Die Angst vor Lautstärke (die übrigens bei ALLEN Menschen angeboren ist), scheint bei introvertierten Menschen sowie Hochbegabten, Intuitiven, Hochintuitiven und Hochempathen stärker ausgeprägt zu sein. Nicht zuletzt weisen sie eine erhöhte Sensitivität auf, was wir spätestens seit Elaine Arons Entdeckungen im Bereich der Hochsensibilität wissen und wissenschaftlich bewiesen anerkennen dürfen. Unsere Sinne sind schärfer. Das ist eine Wahnsinnssache, wenn man beruflich sinnlich (visuell, auditiv, haptisch, gustatorisch, olfaktorisch) unterwegs ist – oder gar übermäßig kreativ. Höhen und Frequenzen in der Musik nehmen wir ganz anders wahr. Wir können Tiefgänge in so manchem auch viel intensiver wahrnehmen und erleben, während sich andere nur wundern. Deshalb sind Großraumbüros oder ständig klingelnde, piepsende Handys, Pings der E-Mailprogramme, grelles Licht, abartige Gerüche, die bestimmte Konsistenz eines Nahrungsmittels oder kratzende, zwickende und enge Kleidungsstücke nichts unseres.

Auch in der Sparte der psychischen und emotionalen Sensibilität haben wir andere Vorstellungen als extravierte Menschen. Als King Kong im gleichnamigen Film auf dem Empire State Building minutenlang von Flugzeugen beschossen wurde, habe ich zwei Taschentuchpackungen verheult – während sich mein extravertierter (Ex-)Freund schämte. Wenn ich wütend bin, ist man lieber woanders – oder man merkt es gar nicht. Wenn ich brülle, steht die Uhr nicht auf 5 vor 12, sondern auf halb 1. Das ist bei vielen so, weil sich vieles anstaut. Wenn wir Nein sagen, meinen wir klar „Nein!“, nicht „Versuche mich noch weiter zu überzeugen.“ Essen, Parfums und Temperaturen können ernsthaft auslaugen oder beflügeln. Freunde sind Familie. Stundenlange, gute Gespräche können Wochen voller Stress wegzaubern. Eine Umarmung oder ein „Wie geht es dir?“ hat eine wahre Bedeutung. Und Sex ist weit mehr als nur „Sex“.

Nicht selten dachte ich, dass Introvertierte per se „komplex“ seien, auch wenn sie wenig oder weniger von sich preisgeben. Sie brauchen einfach ihre Zeit, um Vertrauen zu schöpfen und sich bei jemandem zurücklehnen zu können.

 

Introversion: Sinne und Emotionen in Verbundenheit

Introversion heißt auch: Wir haben eine außergewöhnliche Neigung dazu, unsere Sinne mit den Emotionen in Einklang zu einer wahren Pracht zu bringen: Wir fühlen Farben, riechen Angst (oft modrig, schlammig), sehen anderen ihre geheimen Gedanken an der Nasenspitze an und wissen, wie die Jahreszeiten schmecken. In Gesprächen mit Konfliktnatur nehmen wir alles wahr und saugen es auf, speichern es ab und können es später mit unseren Gefühlen und Emotionen erneut in uns aufrufen, wie ein Buch, das wir wieder an einer bestimmten Seite aufschlagen.

Wir fallen oft erst zwei bis drei Tage später aus allen Wolken, weil unser Gehirn erst dann alles verarbeitet hat – all die (Not)Lügen und versteckten Gemeinheiten anderer. Wir brauchen aber nicht aus Unfähigkeit länger; wir haben mehr Informationen aufgenommen und hatten deshalb mehr zu verarbeiten. Ausgeblendet wird bei uns gar nichts. Eine wunderbare Sache, wenn man sich in Gefilden befindet, die von Informationsverarbeitung, -aufarbeitung, Mustererkennung und -verbindung befindet. Wir sind eben die für das große Ganze, während extravertierte Menschen meist nur einen Teil bearbeiten. Wir sind – in den meisten Fällen – auch hochempathisch, was extravertierte Menschen selten sind. Wir stehen für Gegenseitigkeit, Ehrlichkeit, Freiraum, Individualität (was nicht heißt, dass Extravertierte es nicht auch wären).

 

Das nicht so Schöne an der Introversion

wie gehe ich mit meiner introversion um

Natürlich gibt es auch Seiten, die wir deshalb weniger draufhaben: Unsere Ideen sind weniger schnell aufrufbar. In Brainstormings brillieren wir entweder nicht schnell genug, gar nicht oder aber sind total genervt, weil wir schon wissen, was zu tun wäre. Weil wir in manchen Dingen unser eigenes Tempo haben, können wir uns in Liebesdingen schnell überrannt fühlen. Wir brauchen eben länger, um Vertrauen aufzubauen. Extravertierte lassen sich schneller auf jemand Neues ein, wo wir noch darüber nachdenken, wie derjenige wohl diesen einen Satz gemeint haben könnte.

Wir stehen ungern im Mittelpunkt, was bei einigen bis hin zu Prüfungsangst, Redeangst oder Auftrittsangst geht. Wir sind kritischer in Hinblick auf unsere Leistungen, was uns zwar zu wandelnden SWOT-Analytikern (Stärken-Schwächen-Chancen-Risiken-Analysen) macht. Aber wir vertrauen uns oftmals nicht genug. Wir brauchen deshalb auch etwas länger, bis wir zu einer Entscheidung kommen. Besonders im emotionalen Bereich kann das oftmals wie Misstrauen oder gar Misanthropie aussehen. In Wahrheit aber grooven unsere Gehirne noch, sind noch nicht fertig mit der Bearbeitung der Situation oder Herausforderung. Am liebsten sind uns tiefsinnige, interessante Gespräche. Gute Small-Talker sind wir deshalb auch nicht.

Einige dieser Herausforderungen lassen sich erlernen, meint abtrainieren. Ich habe es ausprobiert. Andere wiederum – schon erwähnt – lassen sich nur ertragen lernen. Das funktioniert am besten, je weniger gestresst man ist. Äußere Umstände können besonders lästig werden, wenn Introvertierte in ihre Gedanken versunken sind, zum Beispiel arbeiten, schreiben, kreativ sind, sich bewusst entspannen wollen, ihren Gedanken freien Lauf lassen wollen. Jede Unterbrechung kann schnell an die Grenze zum Genervtsein schlagen. Mit Melancholie hat das aber nichts zu tun. Wir empfinden eben alle Gefühle und Emotionen tief und schwimmen da auch gern drin. Mir fiel in meiner bisherigen Arbeit mit introvertierten, sensiblen Menschen zudem auf, dass wir oft noch sensitiver und sensibler auf leidige Umstände reagieren.

Auf Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Treffen zum Beispiel brauchen wir meist bewusste Auszeiten und Pausen, bevor wir uns wieder ins Getümmel werfen. Auch mit der neurologisch sinnvollen Frequenz von 90 min je Arbeitseinheit, gefolgt von einer Minipause, kommen wir oft nur schwer zurecht. Je nach individueller Konstitution brauchen wir nach 30 oder 45, meist aber nach spätestens 60 Minuten eine Pause von mindestens 10-20 Minuten.

Eine noch leidigere Sache bei der Introversion ist, dass wir es nicht mögen, zu warten. Wir sind es aufgrund unseres Lebensstils gewohnt, dass wir uns so wenig wie möglich externen Umständen und Menschen anpassen müssen. Bekommen wir also nicht wie üblich schnell Zugriff auf etwas, können wir leichter nervös und gestresst werden. Zwischen Introvertierten gibt es natürlich auch „Niveaus“, also Ebenen der Intensität. Einige sehen Umstände, die ich so gar nicht abkam, entspannter als ich, während andere noch viel kritischer sind. In eine einzige Schublade passen wir also nicht.

 

Was Introvertierte noch wissen dürfen

introvertierte durchsetzen selbstbehauptungIch mag etwas extrem sein, wenn es um Anpassung geht. Doch: Wenn sich zwei in ihrer -iertheit unterscheiden und partout keine Kompromisse finden, schadet es der Seele desjenigen, der sich „deshalb“ freiwillig ändert oder anpasst. Lieber „Alles Gute“ wünschen und sich so sein lassen, wie man ist, auch wenn es bedeutet, dass derjenige nicht Teil des Lebens ist oder du Teil seines Lebens. Dennoch ist es auf lange Sicht gesünder und wohltuender, weil vorprogrammierte Konflikte gar nicht erst entstehen können.

Auf der anderen Seite können Introvertierte einiges von Extravertierten lernen (umgekehrt auch). Begib dich deshalb lieber nicht so schnell in dieselbe Vorurteils- und Bewertungsschublade wie andere. Sondern beobachte, was dir am extravertierten Lebensstil zugute käme. Studiere die Menschen, die mit Bravur und Leichtigkeit etwas können, was du beneidest oder gut gebrauchen könntest. Schau, ob dein Körper, Geist und deine Seele das willkommen heißt oder ob es sich um eine Duldungssache handelt. Frage bewusst deine extravertierten Freunde oder Familienmitgliedern, wie sie es machen. Gehe ihn auf den Nerv, bis sie es ausspucken. Oft machen sie es so intuitiv und unbewusst, dass sie nur schwer sagen können, wie sie es tun. Aber wenn man ihnen erklärt, wieso man X wissen möchte, öffnen sich viele schnell.

Beide Seiten bewusst anzugleichen, macht einen zwar noch lange nicht ambivertiert. Denn das hieße, dass beide Tendenzen – Extraversion und Introversion – eigens als Impulse in dir auftauchen. Aber es ermöglicht auf jeden Fall eine Entwicklung deiner Persönlichkeit und deiner Kompetenzen im beruflichen und/oder privaten Kontakt. Es bewusst auszubalancieren, bedeutet nicht zwingend, dass wir etwas wegnehmen, sondern nur, dass wir ergänzen.

 

Wie man sich selbst als Introvertierter sieht, ist entscheidend

Gott weiß: Ich habe lange Jahre mit meiner Natur gekämpft und meine Introversion nicht selten zum Teufel jagen wollen. Ich wollte alles können, was andere konnten – der Anpassung wegen und um nicht aufzufallen, um alles das zu bekommen, was andere hatten, um immer Teil sein zu können statt allein. Aber ich merkte schnell, dass meine Introversion ihre Vorteile hatte, dass Exklusion und Alleinsein Gutes innehatte. Allein das Erfahren des introvertierten Lebens, der innerer Weisheit, Achtsamkeit und tiefer erlebten, menschlichen Gefühle birgt Anker voller Kraft, die dich nähren und über einiges hinwegtragen.

Nur wenn es sich um Angst, Scham und Schuld handelte, hatte ich Schwierigkeiten, mich dort hineinfallen zu lassen. Zum Glück durfte ich lernen, dass auch Extravertierte ihre Probleme damit haben – manchmal sogar mehr als die, die die Weiten ihres Bewusstseins nicht scheuen, sondern lieben. Wenn man sie denn lieben gelernt hat: Eine unbedingte Empfehlung für alle Introvertierten.

Leise Grüße,
Janett Menzel

 

Erkenne gesunde Bindungsstrukturen

Stell dir vor, du wüsstest binnen von 2-3 Dates, wer für dich gemacht ist und wer nicht. Selbst auf Manipulationen wüsstest du zu reagieren – integer und angstfrei.

>> Ade Zufallsliebe <<

Janett Menzel

Mentorin | Life & Love Design

Schattenarbeiterin, Expertin für Bindungsangst und Kommunikation in Partnerschaften, Emanzipationswunden, transgenerationale Muster, Wer bin ich? Wer will ich sein?, Mutter- und Vaterwunden, Hochbegabung – Hochempathie – Kreativität & Angst. Anfragen und Beratungen >>

 

1 Kommentar

  1. Dankeschön für den Beitrag ☺️

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