Am Donnerstag fahre ich für ein paar Tage ans Meer. Ich liebe das Meer am meisten, wenn es rau ist. In meinen Augen ist es so, dass wer das Meer nicht auch bei Sturm, Regen und Kälte liebt, ist das Meer bei Sonne nicht wert. Wenn die Sonne scheint, ist es ruhig. Vielleicht ein paar leise Wellen, sonst nur die vielen quietschenden Touristen und einheimische Badegäste. Aber wenn das Wetter aufdreht, die Natur ihr Spiel spielt und seine Macht beweist, ist das Meer in all seiner Schönheit einfach „da“. Es ist jedes Mal wie eine Erlaubnis für mich, daran teilhaben zu dürfen und es beobachten zu können:
Wie sich eine Welle nach der nächsten aufbaut und noch zu einer viel höheren Welle türmt, angerast kommt, am Ufer bricht und von der nächsten Welle abgelöst wird. Diese Geräusche, so ohrenbetäubend, aber unverwechselbar still, tiefe Ruhe für die menschliche Seele, lassen jeden Lärm um mich herum verschwinden. Auch den in meinem Kopf. Die Augen, wie sie gebannt auf das Wasser schauen, sehen nur diese Kraft oder den Zorn des Meeres, die Wut, die Vehemenz in jeder Bewegung. Diese schier untrügliche und zweifelsfreie Kraft: so pur, so rein, so wahrhaftig. Und roh.
Es erinnert mich an: LEBEN.
Doch diese Woche, und heute ist erst Dienstag, habe ich bereits genug von „rau“. Ich kann zwischen den ganzen Medienberichten um den Terror in Paris, angsthaschende Medienberichte um weitere Terrorankündigungen für Deutschland und Österreich, verängstigte Menschen überall, vermeintliche Bombendrohungen in Berlin und Hollandes Aufruf aller EU-Staaten, sich am Kampf/Krieg gegen die IS zu beteiligen, nichts Raues mehr vertragen. Ich musste mich heute dabei ertappen, wie ich einen Bericht über IS Drohungen las und mir die Tränen liefen.
Trotzdem werde ich fahren. Nicht, um mich abzulenken, sondern weil ich gelernt habe, dass man trotz allem immer weitermachen muss. Ich werde fahren, weil das Meer mein Kraftort ist. Weil das Meer mich an das Gute (bei Sonnenschein) und an das Schlechte (bei Sturm) erinnert, an die Höhen und die Tiefen des Lebens und jeder menschlichen Seele, an die Kraft der Gedanken und die Macht des Geistes im Allgemeinen. Und wie er am Meer schweigt…
Selten ist es so still in mir wie am Meer.
Als ich im September an einem Morgen am Meer saß, es waren die letzten paar Stunden meines Aufenthaltes, war ich extra früh aufgestanden. Es war kalt, windig und die Luft war feucht. Ich wollte den Morgen und den Sonnenaufgang am Ufer, im nassen Sand auf meiner Jacke sitzend, beobachten. Wie die Möwen um mich herum aufwachten und vor mir entlang watschelten, als wären sie Touristen auf dem Weg zum nächsten Café für Croissants und einen Pott schwarzen Kaffee. Ich wollte nichts essen und nichts trinken. Ich wollte nur meine Augen schließen, das Geräusch der Wellen und der Brandung hören, das Quieken der Vögel, wie sie sich „Guten Morgen!“ zuriefen oder klar machten, was heute noch so gehen würde, den Geruch von nassen Algen und feuchtem Sand, Meerestieren und Salz einatmen.
Ich wollte diesen Moment einatmen. Ich wollte, dass er in mich eindringt und mich komplett ausfüllt und alles an Schrott in meinem Kopf wegspült und fortträgt, an ein eigenes, anderes Ufer, wie abgerissenes Seegras dort liegen bleibt, zum Austrocknen und Vergessen.
Ich saß stundenlang da, mit meinem iPhone und meiner Kamera auf Aufnahme gedrückt, in der Hoffnung, irgendeines der technischen Geräte könnte diesen unverwechselbaren Frieden in mir für die Ewigkeit festhalten, abspielbar und spürbar in einem der kommenden Stürme in meinem Leben, wenn mal wieder kein Meer vor mir liegt.
Es gibt ein Zitat (anonyme Quelle), was ich ausgedruckt und bemalt in meinem Regal stehen habe:
I love the sea because it teaches me.
Als ich 2013 häufig Angst und Panikattacken hatte, wegen der unterschiedlichsten Dinge und Personen und der Dinge, die diese Personen taten und meist auch der Dinge, die diese Personen nicht taten, fand ich es im Internet und druckte es aus. Keine Ahnung hatte ich zu diesem Zeitpunkt, wieso und wozu eigentlich. Aber es war wie ein Drang, nicht zu stoppen. Ich musste dieses Zitat haben und Platz dafür in meiner Nähe schaffen.
Mir hat das Meer zwar immer viel bedeutet: Ich liebte es schon als Kind, im Meer herumzutollen, Rollen im Wasser zu machen, stundenlang (obgleich sich daran auch als Erwachsener wenig geändert hat), zu schnorcheln, zu tauchen, jedes Mal ein wenig länger die Luft anzuhalten, Muscheln vom Meeresgrund zu holen, alles Mögliche im Sand am Meeresboden zu suchen und hervorzuholen, hinauszuschwimmen, an der Wasseroberfläche zu treiben, alles hinter mir zu lassen.
Aber erst im September verstand ich, was mir das Meer eigentlich „gab“ und welch tiefe Bedeutung es für mich trägt.
Da verstand ich, was ich jahrelang am Meer gefühlt hatte, was sich in mir tat, wenn ich am Meer oder im Meer war: Es war die Ganzheit, Leere und Fülle, Stille und tosender Lärm, Schönheit und Leben sowie Grausamkeit und Tod. Macht und Entmächtigung. Abertausende Tiere, bekannte und unbekannte, friedliche und gefährliche, Nahrungsketten und wilde Fülle von unentdeckten Meeresgründen mit wunderschönen, unvergleichlichen Erlebnissen. Verborgen, tief unter dem Meer, nur sichtbar für die, die sich trauen, zu tauchen und die Rohheit weder fürchten, noch ignorieren. Durchhalten, Weitermachen, Fortbewegen, Sich-tragen-lassen, Entdecken, Eintauchen, Vertrauen, Respektieren, Sich-treiben-lassen.
So wie im Leben.
Sturmwarnung!
Ich wollte immer Surfen lernen. Ich bewundere Surfer, seit ich ein kleines Kind bin, für den Mut einerseits und für ihr Können, Wellen zu „reiten“, andererseits. Es ist für mich die perfekte Metapher für das Leben. Die Wellen sind die Schwierigkeiten, denen wir begegnen. Wenn das Meer ruhig ist und die Sonne scheint, sind die meisten gern dort. Sie sind zufrieden, fühlen sich wohl, lassen die Sonne auf ihre Haut scheinen, bräunen sich, gehen ein wenig vorne schwimmen, ärgern sich vielleicht über den ganzen Sand an ihrer Haut und in der Sonnencreme. Abends gehen sie wieder heim und waschen das Salz und den Sand unter der Dusche wieder ab. Es war ein wunderbarer Tag! werden sie beim Abendessen am Tisch sitzend sagen und lächeln.
Aber wehe es kommt ein Sturm.
Dabei gibt es Stürme am Meer an jedem sonnendurchfluteten Tag, ganz weit hinten raus, was kein menschliches Auge am Strand je erblicken würde. Hinten am Horizont sieht man die gerade Linie, alles klar, alles in Ordnung, keine Probleme. Soweit wie unser Auge reicht. Doch wie auch auf dem Meer, für uns Menschen am Ufer unsichtbar, gibt es in jedem Menschen einen Sturm, der sich zusammenbraut oder bereits tobt, ohne dass ihn jemand erkennen würde. Ohne dass derjenige ihn selbst wahrnehmen würde. So wie wir am Ufer denken, hier wie draußen auf dem Meer, ist alles still. Alles gut.
Als ich 2004 an der Adria war, es war ein ganz normaler, sonniger Tag, wurde in weniger als 30 Minuten eine Sturmwarnung herausgegeben. Ich war zum damaligen Zeitpunkt Betreuerin einer Gruppe von Ferienlagerkindern, die in Italien eine Woche entspannen wollten. Alle Kinder mussten rein in die Gebäude. Nichts und niemand durfte draußen sein, so gewaltig sollte der Sturm werden. Als wir alle Kinder im Gebäude hatten und sämtliche Sonnenschirme von den Angestellten des Hotels demontiert waren, schlich ich mich raus.
So gewaltig war der Sturm gar nicht. Wir Menschen denken immer, dass „angekündigte“ Stürme desaströs wären und natürlich gibt es Stürme, die es sind. Aber die kleinsten Stürme halten wir schon für große Unwetter und Katastrophen, vor denen wir unwissend und ignorant fliehen, nur um dann am Fenster im Trockenen zu stehen und zuzusehen. Voyeure wie wir sind. Etwas starker Wind macht uns Angst. Wie auch Probleme.
Surfer aber schwimmen meist kilometerweit raus, um an eine Stelle zu gelangen, wo sich die Wellen besonders zusammenbrauen. Sie wollen diese meterhohen Wellen, die Reibung des Meeres, sie wollen mittendrin sein und es sich dann beweisen: Dass sie die Kraft des Moments, die schier unersättliche Kraft des Meeres, aushalten und bezwingen können.
Ich habe mich immer gefragt, wie Surfer wohl mit dem Leben umgehen, mit Problemen und Schwierigkeiten. In meinen Augen dürfte sie nichts erschrecken, nichts lähmen, nichts wehrlos oder hilflos fühlen lassen. Ob sie Angst kennen? Wer es schafft, sich die Kraft und Macht des Meeres zunutze zu machen, um just diesen Moment zu erleben – zu fühlen, dass sie leben und am Leben des Meeres teilhaben zu dürfen – den wird kaum etwas erschrecken dürfen, denke ich. Aber ich weiß, dass ich mich sicher irre.
„Wer dem Meer vertraut, kennt es nicht.“ sagt ein griechisches Sprichwort. Aber „ein ruhiges Meer macht keine erfahrenen Seeleute„, sagt ein afrikanisches. Es gibt „das Meer voll von Möglichkeiten„, aus dem wir trinken können, und solange „das Gefühl ein Meer ist, und der Gedanke ein Teich„, möchte ich lieber glauben, dass jede Schwierigkeit und jedes noch so kleine und große Problem nur wie Sand am Meer sind, über die das Wasser hinweggehen kann.
Denn in China sagt man: „Endloses, bitteres Meer, aber wende den Kopf. Da ist die Küste!“ Oder wie der niederländische Theologe Hermann Kohlbrügge riet: Jeder sollte „sich selber über Bord werfen in das Meer seiner Gnade„, sich vertrauen und wissen, dass auch dieser Sturm wieder vergehen wird.
LG
Janett
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