Am Wochenende war ich bei einer meiner langjährigsten Freundinnen Trauzeugin ihrer kirchlichen Hochzeit. Ich wurde konfessionslos erzogen und konnte leider fast kein Lied in der Kirche mitsingen, außer das letzte: Die Gedanken sind frei. Ich war mir nie bewusst, dass es so viele Strophen hat und kannte nur die erste. Aber bei dem gesamten Liedtext lief mir zum Schluss ein Schauer über den Rücken, so überwältigt war ich von der inhaltlichen Bedeutung.
Wer die Strophe nicht ad hoc abrufen kann, hier noch einmal der gesamte Liedtext:
Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten?
Sie fliegen vorbei
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen
mit Pulver und Blei.
Die Gedanken sind frei!
Ich denke, was ich will
und was mich beglücket,
doch alles in der Still‘,
und wie es sich schicket.
Mein Wunsch und Begehren
kann niemand verwehren,
es bleibet dabei:
Die Gedanken sind frei!
Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
ich spotte der Pein
und menschlicher Werke;
denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
Die Gedanken sind frei!
Drum will ich auf immer
den Sorgen entsagen,
und will mich auch nimmer
mit Grillen mehr plagen.
Man kann ja im Herzen
stets lachen und scherzen
und denken dabei:
Die Gedanken sind frei!
(Dieses Volkslied enstand um 1790 und wurde 1841 von Hoffmann von Fallersleben bearbeitet.)
Ich habe einige Verse fett markiert, weil sie in meinen Augen ganz wichtig sind, für alle, die manchmal, häufig oder momentan stets Angst empfinden. Für mich signalisiert das Lied vor allem, dass Angst sehr alt ist. Aber wer kennt schon Lieder über Sorgen und Ängste? Heutzutage geht es zwar viel um Selbstverwirklichung und Stressmanagement, aber am Fuße des Berges sieht man trotzdem nur den langen Weg vor sich. Außer die „Symptombehandlung“ des Alltags und allem, was er mit sich bringt, mangelt es den Medien an einem offenem Umgang mit Angst und Sorgen, außer es handelt sich um politische Belange. Daher finde ich es schön, dass sich dieses Lied wieder in meinen Kopf zurückgerufen hat.
Auf der Suche nach weiteren Liedern kamen mir etliche moderne Lieder in die Finger. Zum Beispiel singt Rosenstolz mehrfach über Angst:
Es ist irgendwie passiert
Ich lebe noch
Ich roll‘ den Stein den Berg hinauf
halt Tag für Tag
Doch viel zu viel Worte
fallen auf mich ein
Viel zu viele Menschen
reden mir nur rein
Ich hör‘ mich nicht
Ich seh‘ mich nicht
Ich finde keine Ruh‘
Nur Ihr seht mich
Nur Ihr hört mich
Doch hört Ihr mir auch zu?
Ich habe Angst vor jedem Tag
Ich habe Angst vor jeder Nacht
Ich habe Angst daß ich mir vertrau‘
Ich habe Angst daß ich mich verlier‘
Ich habe Angst vor mir
[…]
Ich lieb‘ mich nicht
Ich brauch‘ mich nur
Ich sehne mich nach Luft
(„Angst“, kein konkretes Veröffentlichungsdatum).
Angst vor sich selbst, Angst vor der Zukunft, Angst vor Fremdansprüchen und Selbstverlust. Selbst in ihren Lied „Ich hab genauso Angst wie du“ und „Fütter deine Angst“ treffen sie den Nagel auf den Kopf und ich frage mich: Hatte jeder schon einmal diese Angst (ich meine, die handfeste, lähmende, unerträgliche, panische, krankhafte Angst, die man als Angst-Betroffener im klinischen Sinne kennt)?
Besonders in „Fütter deine Angst“ ermahnen Rosenstolz, was viele lernen mussten: Raus mit den Gefühlen.
Ohne Deine Wut
bist Du ein halber Mensch
ohne Deinen Zorn
verlierst Du Deinen Blick
Ohne Deine Angst
fehlt Dir jeder Mut
ohne die Gefahr
geht es nur zurück
Geh lieber durch die Wand
als immer durch die Tür
durchbreche den Verstand
dann findest Du zu Dir
Fütter Deine Angst
denn sie wird niemals satt
verschwende Deine Wut
Dein Leben schreit danach
Balsam für die Seele
ist die Ruhe für den Sturm
erliege der Versuchung
denn sie gibt Dir Kraft
Fütter Deine Angst
Fütter Deine Angst
Ohne Deine Stimme
wird es niemals laut
ohne Deine Schwäche
wirst Du niemals sehn
Ohne andrer Küsse
wirst Du niemals warm
ohne Deinen Atem
wird es nie geschehn.
Auch in „Ich hab genauso Angst wie du“ singen Rosenstolz:
[…]
Ich hatte schon immer Schwierigkeiten mit dem Leben
Und hatte schon immer Schwierigkeiten das auch zuzugeben
Ich wollte schon immer schneller laufen, höher fliegen
Und wollte schon immer höher hinaus und bin doch drunter geblieben
Ich hab genauso Angst wie du
Meine Flügel sind aus Blei
Und bist du verrückt, bin ich’s um so mehr.
Ich bin wirklich erstaunt über das Lied „Angst“ von Marismoto (anscheinend gecovert von Marteria), in denen gesungen wird:
Hast du Angst?
[…]
Mit 6 hast du gedacht, bald geht es weg
Jetzt bist du 30 und es liegt neben dir im Bett
Hast du Angst, vor deinem Verstand?
Das er dir irgendwann mal sagt:“ Ich glaube, du bist krank“?
Und die Kontrolle deines Körpers übernimmt
Er dir drei Finger zeigt und du antwortest mit Fünf
[…]
Wenns nicht anders geht, musst du heimlich wein‘
Keine Angst, du bist mit deiner Angst nicht allein!!!
(Marismoto, „Angst“)
Ist das nicht erstaunlich, wie zutreffend die Verse beschreiben, wie sich Angst! anfühlt? Nicht, dass ich je davon ausgegangen bin, als Einzige diese Gefühle zu kennen. Ich bin nur davon ausgegangen, dass dieses Thema nicht medial verarbeitet würde. Das war mein bisheriger Stand und ich kenne kaum erfolgreiche Formate, die sich mit Angst im Extremen beschäftigen. Selbst das Magazin „Happy Way“, welches in seiner Juli/August/September-Ausgabe das Thema Angst behandelt (in mehreren, sehr guten Artikeln), weicht den handfesten, krankhaften Angststörungen in der Benennung aus. Die Artikel handeln zweifelsohne von Menschen, die gelernt haben, dass ihre Angst ihnen nur Gutes wollte und die auch lernten, sich ihr zu stellen und mit ihr umzugehen, das Dahinter zu erkennen und es trotz Angst zu tun. Leider fällt nirgends das Wort „Angststörung“, nirgends wurde der krankhafte Auswuchs, wenn es einfach zu viel wird, genannt. Nur Angst als Gefühl. Hat Deutschland wirklich so viel Angst vor der Angst? Und ich konnte beim Lesen der Artikel wirklich spüren, dass man drumherum geredet hat.
Umso mehr freut es mich, zu sehen, dass auch Die Toten Hosen in ihrem Lied „Angst“ den Mund aufgemacht haben:
Die Gedanken hören nicht zu denken auf,
[…]
Es ist die Angst in dir, die dich so beherrscht,
dass du dich selber nicht mehr kennst.
Und sie quält dich immer weiter,
als ob wenn bloßer Regen fällt.
Ein pausenloser Wegbegleiter,
der dich nirgendwo in Ruhe lässt.
Nägel bohren sich in deinen Kopf,
das Bild vor deinen Augen verschwimmt.
Gefangen in einem zu tiefen Loch,
kannst dich selbst nicht mehr rausziehen.
Atemlos in Panik,
vor dem nächsten, neuen Schub,
vor den ruhelosen Geistern,
die man selber schuf.
Eine Band namens Eisbrecher fand ich mit ihrem Lied „Angst“, welches auch mit ganz klaren und direkten Texten beschreibt, wie man sich fühlt, wenn Angst einen in der Hand hat:
Sag mir wovor läufst du weg
vor all den Lügen und dem Dreck
Weißt nicht weshalb
und nicht wohin
und fragst dich plötzlich
nach dem Sinn
nach dem Sinn
Angst wirft ihren Schatten
an die Tür
Angst beißt sich fest
wie ein Geschwür
Deine Angst hat dich fest
in ihrer Hand
Angst hat dich entmannt
Nackte Angst ist die Macht
die dich regiert
Angst die deine Seele kontrolliert
Deine Angst ist die Quelle
deiner Gier
Angst vor dir
Sag mir wovor
hast du Angst
Jetzt geht es dir
an die Substanz
Du wirkst so müde
und gehetzt
weil dir die Angst
den Kopf zerfetzt
Du glaubst es geht
mit dir bergab
denn deine Stunden
werden knapp
Du rennst und rührst
dich nicht vom Fleck
und wirfst dich selber
einfach weg.
Silbermond, die ich eigentlich auch nicht gut kenne, besingen in „Keine Angst“ Zukunftsangst und dem Loslassen der Angst vor der Angst, die Überwindung bzw. Bewältigung der Furcht vor dem Leben:
Bisher war mein Leben wie ein Teufelskreis
und jedes Warten vergebens auf den Tag der mich befreit
Doch seit heute hörst du die Geister munkeln die ganze Straße entlang
ich tappe jahrelang im Dunkeln, jetzt gehen die Scheinwerfer an
Der schwere Schatten fällt
und es wird hell…
Alle Türen waren verschlossen
stand mit dem Rücken zur Wand
Jetzt stehen sie speerangelweit offen
ich hab die Schlüssel in der Hand
ich wollt, meine Zukunft nicht erleben
und noch gestern hatte ich Angst davor
doch heut bin ich verliebt ins Leben
weil ich die Furcht davor verlor
Ich bin gefasst wie nie
auf das was vor mir liegt…
Ich bin bereit.
Und zum Schluss, einer der größten deutschen Musiker, Herbert Grönemeyer, mit seinem Lied „Angst„:
Angst vor der Geschichte
Angst vor sich selbst,
sich in sich zurückzuziehen
aus Angst vor der Welt
Angst auszubrechen, sich zu blamier’n,
sich aufs Eis zu wagen,
Angst, zu erfrier’n.
Einfach Angst zu verblöden
vor der Endgültigkeit
sich an alles zu gewöhnen,
aus Angst vor der Zeit
Angst zu verblöden, bereits mundtot zu sein
Angst stellt ruhig, Angst kricht klein.
Angst braucht Waffen
aus Angst vor dem Feind,
obwohl keiner so recht weiß:
Wer ist damit gemeint?
Angst überholt zu werden,
Angst vor Konkurrenz
Angst vor der Dummheit,
vor ihrer Intelligenz.
Angst als Methode angewandt,
Das Einschüchtern ist geplant
Angst stellt ruhig, Angst kricht klein
Angst vor dem Ende
Angst ‚rauszugehen,
wir sind uns alle verdächtig.
Angst in die Augen zu sehen
Angst vor Gefühlen
Angst vor Zärtlichkeit
Angst aus Erfahrung,
zuviel Vertraulichkeit.
Angst ferngelenkt zu werden
Angst vor dem Aus
Es allen recht zu machen
Angst frisst auf.
Angst sich zu wehren
Angst alleine zu sein
Angst vor der Angst
wir schlafen ein.
Angst vor der Angst.
Wir schlafen ein.
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Schön, dass sich einige deutschen Musiker „trauen“, das Thema Angst und seine Verbreitung anzusprechen bzw. zu besingen.
Liebe Grüße und viel Spaß beim Hören,
Janett
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