Einer meiner längsten und intensivsten Blogposts ist der über Ärger: Woher Dein Grübeln kommt und wie Du es abstellst. Er befasst sich mit dem Unterschied zwischen Opfer- und Täterbewusstsein, den einzelnen Rollen, die (un)bewussten Entscheidungen für das Eine oder Andere, den Wegen aus einem ärgervollen Konflikt heraus und vor allem mit dem Sinn deines Ärgers und deiner Wut. Zum damaligen Zeitpunkt ging ich dieses Thema nur oberflächlich theoretisch und mit zu wenig Gefühl an.
Dies ist meine eigene Korrektur.
Ärger und Wut als Mutter der Verletzungen: Wut ist die Schutzpatronin der Traurigkeit
Ärger und Wut wehren ab. Beide sind in ihren Eigenschaften (soziologisch) typisch weiblich, mütterlich und dienen dem Schutzgedanken, der Abschottung und Behauptung. Trauer hingegen ist wie das kleine Kind. Es kennt nur Hilflosigkeit, Wehrlosigkeit und bedeutet als Ergebnis: Schmerz.
Unsere Leistungsgesellschaft macht es uns allen schwer, Gefühle zu zeigen und zu ihnen zu stehen. Wer weint heute schon noch einfach vor anderen Menschen drauf los? Kaum jemand, und wenn man es täte, würde man als schwach, kindisch, sensibel (das ist heutzutage ja auch ein Schimpfwort!) und weinerlich betitelt werden. Dabei ziehen wir uns beinahe täglich kleinere und größere Verletzungen zu.
Unbedacht und ungedacht schaffen es Kollegen, Freunde, Bekannte, Partner und auch Kinder, Eltern und auch bloße Bekannte durch dahingesagte und rausgepatzte Bemerkungen oder Handlungen, Abschürfungen auf unserer Psyche und Seele zu hinterlassen.
Aus welchen Gründen sie es auch tun: sei es, dass sie im Mittelpunkt stehen möchten, weil ihnen jemand anderes in ihren Leben zu wenig Platz einräumt(e), sei es, dass sie aus Angst vor ihren eigenen Wertlosigkeitsgedanken gegenrudern möchten oder sich schlichtweg allein und gelangweilt fühlen. Die Palette der Ursachen des eigenen Ärgers läuft gegenseitig darauf hinaus, dass man verletzt, verwundet, gekränkt oder gar gedemütigt wurde. Statt diese Verletzung zu artikulieren, ein offenes Gespräch zu suchen, Konflikte oder Missverständnisse aufzuklären, wieder Frieden zu machen, fressen viele Menschen ihre Verletzung, zu der sie sich nicht trauen zu stehen, in sich hinein… Die Wunde aber bleibt. Denn Mutter Wut will ihr Kind Traurigkeit schützen und will meckern, tadeln, drohen und zurechtweisen. Sie will Gerechtigkeit für die erlittene Verletzung und vielleicht sogar Vergeltung üben, damit ihr Kind es wohliger und wärmer, besser hat, und weniger weint.
Verletzungen geheimhalten
Aus mir schier unerfindlichen Gründen ist es heutzutage „in“, seine Wunden und Verletzungen für sich zu behalten. Als wäre es nicht schon ausreichend, dass wir die großen und guten Gefühle wie Freude und Überraschung für uns behalten, so machen wir denselben Fehler in weit intensiverem Ausmaß bei den Gefühlen Angst und Trauer.
Wenn uns ein guter Freund anpafft, ohne dass wir in unseren Augen einen Fehler gemacht hätten, wundern wir uns. Macht der- oder diejenige es häufiger, geraten wir in die Situation, dass wir zu interpretieren beginnen: „Gut, das war jetzt das 7. Mal. Etwas ist falsch.“ Auch wenn wir anfangs noch meinen, wir hätten nichts mit den Gefühlen der anderen zu tun, so ist es doch meist so, dass dieser schale Nachgeschmack vorhanden ist: „Was wenn doch…?“ Hat man einen Fehler begangen? Oder bekommt man nur so den Unmut und die Aggression, die Wut und den Ärger des anderen Menschen ab?
Und so geraten wir selbst in ihre/seine Situation, als wäre es eine Einladung zum „Gefühle-Teilen“: Ich teile mein Gefühl Wut mit dir, weil ich mich nicht traue, meine Verletzung zu zeigen. Deshalb verletze ich dich zurück oder nur dich, weil ich jemand anderen nicht zurück verletzen darf/will/kann. Aber irgendwohin muss ich mit meiner Verletzung und die Traurigkeit darüber. Ich traue mich nur nicht. Ich bin jetzt wütend, um mich nicht länger hilflos und wehrlos zu fühlen.
Hilflosigkeit schickt sich nicht, Wut schon eher
Oft glaubt man zu wissen, dass seine Verletzungen und Wunden „unangebracht“ seien. Stattdessen mimen wir lieber, wie sehr wir mit allem zurechtkommen, wie stark wir ja sind und was wir nicht alles abkönnen! Diese Leistungsgesellschaft hat es in den letzten Jahrzehnten geschafft, uns zu Supermen und Catwomen zu erziehen:
Eigentlich sind wir Menschen, „normal“, mit Ecken, Kanten und Schwächen, aber wenn man uns anders braucht oder will oder wir uns angegriffen fühlen, dann puhlen wir die Überkräfte aus unserer Persönlichkeit. Und wehren uns. Wir wehren uns mit Aggression, Wut und Ärger, dass wir glatt vergessen, dass wir im ersten Gang traurig sind. Als Ursache.
Stattdessen erscheint es cool und gesellschaftsfähig, niemanden offen und ehrlich mit eigenen Verletzungen zu konfrontieren, sondern sich mit einem charmantem Arschlochverhalten, einer passiven Aggression, einer ausgeprägten Wut oder gar Cholerik durchzusetzen. So funktionieren die Ellenbogen im Job häufig – leider auch viele Beziehungen.
Wann wurde es schwer bzw. unzumutbar, unseren Mitmenschen gegenüber ehrlich und offen zu sagen: „Als du mich das letzte Mal außen vor gelassen hast und stattdessen allein eine Entscheidung getroffen hast, die auch für mich Konsequenzen nach sich zog, hat mich das verletzt.“ oder „Als du letztens so miese Laune hattest, ohne dass ich wusste, wieso, und du mich wie deinen Prellbock behandelst hast, hast du mich verletzt.“ oder „Als du nicht wie verabredet angerufen hast, und dass auch noch ohne Erklärung oder Entschuldigung im Nachgang, hast du mich verletzt.“?
Die Angst steht schon bereit
Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und sage:
Wenn die Wut sich ermahnt fühlt, herauszukriechen, um die Wunden unseres Egos zu verteidigen, macht sich die Angst unbemerkt bereit zum Angriff.
Ich bin ein Verfechter der Theorie, dass unterdrückte Gefühle, unter anderem Wut und Trauer, Angst und Panik auf den Plan ruft. Wenn wir uns weigern, unsere Gefühle zu zeigen, im ersten Schritt uns selbst, indem wir sie erkennen, fühlen und zulassen, dann ist eine Angst- oder Panikattacke vorprogrammiert.
Für mich sind Panikattacken eine notwendige, innere Explosion, hervorgerufen durch Wut und Trauer, die wir NICHT zeigen wollen, NICHT sehen wollen, NICHT anerkennen wollen.
Aber sie sind da.
Selbstignoranz
wäre die Schlussfolgerung, würden wir diesem Verhalten weiterhin Raum geben, es ermöglichen und fördern. Was wollen wir mit Wut und Aggression erreichen, wenn wir verhindern, unsere Verletzungen zu spüren und anzunehmen? Keine Scham. Uns schützen, in der blinden Hoffnung, unser Gegenüber hört auf, uns mit einem bestimmten Verhalten zu verletzen. Aber leider geschieht das nicht automatisch oder nur selten. Selbst wenn wir einen Menschen so lange anbrüllen und/oder passiv aggressiv auf sein Verhalten reagieren, indem wir ignorieren, uns zurückziehen, nichts mehr ernst nehmen oder ihn und seine Bedürfnisse abwerten, belächeln oder missmutig reagieren, hätten wir uns wenig geholfen.
Denn die Benennung der Ursache (ICH BIN VERLETZT!) bleibt aus.
Also sagen wir ab sofort jedem Menschen in unserem sozialen Umfeld, wenn er uns verletzt? Das würde uns jedenfalls ein Coach oder ein Psychologe raten. Er/sie würde uns mit Sicherheit zu gewaltfreier Kommunikation raten.
Die Ambivalenz gewaltfreier Kommunikation
Gewaltfrei bedeutet ja, dass wir klar und ohne vorwurfsvolle Sprache äußern, was uns missfällt, während wir eine Bitte an die Person richten und idealerweise fragen, ob es demjenigen möglich ist, so und so zu sein. Aber wie Mischa und ich im Interview für sein Buch feststellten, gibt es dennoch Menschen und Situationen, bei denen das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation versagt. Da kann man noch solange nett und neutral sein. Wenn jemand „bockig“ sein will und unnachgiebig auf die Erfüllung seiner Bedürfnisse – entgegen aller Konsequenzen und erfolgenden Verletzungen – pocht, dann ist es so. „Als du das letzte Mal so plötzlich ausgerastet bist, ohne dass ich mir einer Schuld bewusst gewesen wäre, hat mich das sehr verletzt. Es hinterlässt bei mir das Gefühl, dass ich etwas falsch gemacht habe, dich verletzt habe, ohne dass ich als Fakt weiß, was die Ursache war. Ich würde mir wünschen, dass du mir ruhig und verständlich sagst, wenn du schlechte Laune hast und woher diese kommt, auch wenn ich sie durch das, was ich sage oder tue, hervorgerufen habe. Es ist m ir wichtig, dass wir offen und harmonisch alle Konflikte klären können. Ginge das, bitte?“
Ja, kann sein, dass derjenige dann sagt: „Mensch, tut mir echt leid. Ich bin total genervt, weil auf Arbeit alles drunter und drüber geht. Dich trifft keine Schuld.“, aber vielleicht sagt er auch: „Tze, du weiß also nicht mehr, was du gesagt hast, ja? Das ist mal wieder so typisch!“
Und zack… Dahin geht die Möglichkeitswelt der gewaltfreien Aussprachen. Und vorhanden bleibt seine Verletzung und die Wut, genauso wie unsere darüber, dass er sich sperrt: gegen Aussprachen, gegen Frieden, gegen Klärung, gegen Offenheit und Ehrlichkeit. Hauptsache, man kann wütend sein und so Aufmerksamkeit bekommen. Eine leichte, wenn auch kritische Art des Verletzungen-Zeigens.
Man kann niemanden zwingen, seine Verletzungen zuzugeben
Das ist für mich das Fazit. So wie wir uns selbst erlauben, nur das zu fühlen, was wir fühlen wollen, Ärger und Schmerz nur so viel in unserem Leben zu haben, wie wir ertragen können, sind wir wohl gezwungen, auch anderen Menschen diese Erlaubnisse zu gewähren. Sollten wir selbst diejenigen sein, die vielleicht fühlen, aber es nicht zeigen, oder bocken, aber nicht bereinigen wollen, dann ist anscheinend die Zeit reif, um uns mit einem Bedürfnis und dem Umstand einer Verletzung auseinanderzusetzen.
Ich meine, das Bedürfnis, was unbefriedigt blieb, machte schon verletzlich. Kommt dann noch etwas on top, türmt sich eines nach dem anderen lange genug, häuft sich Wut und Ärger an, vielleicht auch Angst und Panik: Die Uhr schlägt 12.
Zeit, zu fühlen.
Zeit, zu erkennen und zu verstehen, dass wir ein Bedürfnis haben, was wir befriedigt sehen wollen. Dass wir Gefühle haben, die verletzbar sind. Dass wir nur Menschen sind, die verletzlich sind. Dass nichts und niemand auf der Welt uns verbieten kann, verletzt zu sein, sei es auch drum, dass derjenige kein Empfinden für unsere Verwundbarkeit hat und es als Übersensibilität abtut.
Zeit, für unsere Gefühlswelt einzustehen und uns zu gestehen, dass wir eben nicht Superman oder Catwoman sind.
Sondern „nur“ Menschen, die verletzt sind und sich mal mehr, mal weniger trauen, ihre Wunden offenzulegen und anderen zuzumuten. Oder wie ein Bildspruch besagt: „Gefühle sind auch nur noch etwas für die ganz Mutigen!“
Seien wir so mutig wie möglich und so mutig wie nötig.
Liebe Grüße,
Hallo liebe Janett,
danke für den authentischen und mutigen Artikel. Ich sehe viel Resonanz in mir aus eigenen Erfahrungen und ehrlicher Selbsterforschung. Schön zu sehen, dass Du die Klarheit sprachlich fassen kannst und dieses wichtige Tabu thematisierst.
Lieber Ronny,
danke für deine lobenden Worte. Genau das war der Sinn des Textes: Klarheit.
Wer sich traut, sich zu erkennen, hat schon die halbe Miete verdient, um zu heilen.
Liebe Grüße,
Janett
Heiliger Strohsack, jetzt bin ich fast 50 und brauche immer noch solche Texte….(danke dafür!) – Die Zeit vergeht und man ackert an sich herum und endet gefühlt da, wo man angefangen hat, weil es keine richtige Belohnung und kein Abschlusszeugnis gibt. Aber es lohnt sich trotzdem, klingt verrückt, ist aber wahr. Es ist anstrengend aber ohne Alternative, die wäre schlimmer…. Ich bin manchmal – heute – so ungeduldig, warum das teilweise im Schneckentempo voran geht, aber wenn man nichts tut, endet man im burnout oder in der eignen Sturheit. Und wer will das schon.