Wir sind es gewohnt, dass die Dinge, das Leben und was es ausmacht, auf eine bestimmte Weise geschehen sollen/müssen. Wie das auszusehen hat, lernen wir früh. Wer es dennoch anders macht, es wagt, das Leben anders und auf seine Weise zu leben und dabei übermäßig auffällt, wird eigenartig beäugt. Er gehört – eben wie das Wort es bereits sagt – nicht zu dieser, anerkannten, Art, sondern zu einer eigenen, fremden. Vermeintlich sei die Zugehörigkeit zum „Normalen“ eine gute Sache. Doch eine der größten Erkenntnisse meiner Angst- und Panikzeit bestätigte mir das Gegenteil. Für manche gibt es dieses „normal“ nicht. Für manche ist das Normale nicht besser und oftmals nicht einmal gut oder genug. Nicht wie andere zu sein, kann auch eine Erleichterung bedeuten und Pforten öffnen, die die Selbstverwirklichung in Gang setzen.
Ein Blogpost über den Mut, anders und beizeiten auch eigenartig zu sein.
Stäbchen, Stäbchen in der Hand: Wie geht normal in diesem Land?
„Echt witzig, dass du mit Stäbchen essen kannst, obwohl du sie völlig falsch hältst!“ staunte einmal jemand, als ich mit ihm bei meinem Lieblingsvietnamesen in Berlin zum Abendessen saß. Ich fühlte mich ertappt. Für mich normal und mittlerweile routiniert, hatte ich seit über 15 Jahren in Asiarestaurants „falsch“ gegessen, in der Hoffnung, niemand würde es bemerken. Trotz der „falschen“ Haltung der Stäbchen gelang es mir erfolgreich, dass das Essen in meinem Mund landete, statt auf dem Tisch. Wie man „richtig“ mit Stäbchen isst, weiß ich aber bis heute nicht. Doch da ich nicht imstande war, auf diese bestimmte Art und Weise „normal“ zu sein, lernte ich eben meine eigene Art, Stäbchen zu halten. So auch mit anderen Lebenslektionen.
Als meine Mutter versuchte, mir als Kind beizubringen, wie ich Schuhe zuschnüre, verstand ich nicht, wie das mit einmaligem Herumbinden der Schnürsenkel funktionieren sollte. Ich band sie also zweimal herum, bis heute. Wieder falsch gemacht, aber auch diese eigene Art habe ich mittlerweile perfektioniert. Erst nachdem ich sie Jahrzehnte falsch gebunden hatte, eignete ich mir die richtige Bindeart an. Meine Eigenartigkeit, Dinge auf eine bestimmte Art und Weise zu tun, erlaubte mir, sie gegebenenfalls auch „richtig normal“ zu machen – wenn ich es wollte. Witzigerweise war meine frühere Bestrebung, nicht aufzufallen, wenn und weil ich etwas nicht wie andere konnte, nie gleichbedeutend mit unfähig. Sie versteckte auch nie meine Unfähigkeit, Dinge normal zu machen. Meine Erfahrungen standen im Gegensatz zum bekannten Sprichwort: „Lerne erst die Regeln und dann brich sie.“ Ich machte es nur anders als andere, während andere sahen, dass es auch anders ging – und das offensichtlich sehr gut.
Was ist „normal“, „richtig“ und „gut“ und wer zum Teufel hat’s festgelegt?
Viele der Menschen, die ich seit Bestehen des Blogs kennenlernen durfte, ob mit oder ohne Angst, sind anders, fühlen sich seit ihrer Kindheit/Jugend vermeintlich falsch und versuchen, sich und ihre eigene Art, mit dem Leben umzugehen, zu verstecken. Aus dem „Falschen“ wurde oft ein Gewirre an Glaubensmustern wie „Ich bin nicht richtig. Wenn ich nicht richtig bin, bin ich falsch. Wenn ich falsch bin, bin ich nicht gut. Bin ich nicht gut, bin ich schlecht. Und schlecht zu sein, heißt, nicht geliebt zu werden.“ So begaben sie sich auf eine Reise ins „Besser-werden-Land“, in dem man sich an anderen abschauen und lernen konnte, wie das Leben „richtig“ funktioniert.
Wir haben uns in ein Leben leiten lassen, anhand dem, was andere Personen sagten, die selbst nur von Anderen gelernt haben. Was sie gelernt haben, muss nicht einmal richtig sein – erst recht nicht unserem Rechtsempfinden entsprechen. Wir haben alle eigene Werte und Ideale, Persönlichkeiten, so verschüttet sie auch sein mögen. Das sollte schon wertgeschätzt werden. Doch Menschen, die uns erziehen und meinen zu wissen, was gut für uns sei, können sich auch irren. Nehmen wir zum Beispiel Eltern oder Freunde: Sie meinen es nicht schlecht und wollen uns nicht verletzen, wenn sie uns ihre Meinung sagen oder beschützen wollen. Je nach Härtegrad aber ignorieren viele, dass andere eben anders sind oder anders aufwuchsen oder anders empfinden. Nur in offenen Gesprächen könnte es gelingen, dass man beide Meinungen unterbreiten kann und so für Verständnis sorgt. Aber dazu muss schon eine Bereitschaft bestehen, die ziemlich häufig fehlt. Dafür gilt zu sehr ein Kodex, der sich seit Generationen „durchzieht“ und uns Menschen lenkt. Eigene Bedürfnisse dürfen so gut wie gar nicht mehr sein. Erfolg wird (still oder laut) beneidet und durch Vergleiche, in denen der Wertende schlecht abschneidet, mit offener Ablehnung und Verachtung gestraft. All das nur, weil der Gegenüber es sich selbst wünscht und es dem Erfolghabenden nicht gönnt. Heute will einfach jeder der Beste sein und leidet nach meinem Empfinden unter den eigenen Bedürfnissen, die unbefriedigt blieben. Das wiederum erzeugt Traurigkeit, Wut, Frustration, Angst und führt letzten Endes zur Ellenbogengesellschaft, wie sie existiert, samt Mobbing, Untreue, Persönlichkeitsstörungen und mehr.
Angst vor dir selbst? Über die Angst, nicht nur anders, sondern sogar besser zu sein
Unter meinen LeserInnen, in vielen Fällen Menschen mit Angst, Panik, Depressionen oder Selbstzweifel und Sorgen/Stress, lernte ich einige kennen, die sich nicht trauten, besser zu sein, weil sogar dieses „Besser“ ihnen das Gefühl gab, dass sie anders und damit nicht genug wären. Dabei hatten sie große Talente, die sie dennoch lieber unter den Scheffel stellten, um nicht aufzufallen und bei niemandem anzuecken. Menschen wie wir haben es nicht so mit Kritik. Das muss gelernt werden und täglich geübt. Denn anders zu sein wird von uns (als Ergebnis anderer) negativ interpretiert. Dann wären wir weniger für andere da und würden eventuell deren Bedürfnissen weniger Beachtung schenken. Wir hätten mehr erreicht oder etwas, was sie nicht erreicht haben. Sie würden sich schlecht fühlen und traurig werden. Aus Angst davor, andere zu verletzen, halten sich Menschen mit Angst und Panik deshalb absichtlich klein und scheren nicht aus. Sie ignorieren eher ihre Talente. Diese Ereigniskette und ihre eventuellen Konsequenzen macht vielen – verständlicherweise – bis heute eine Heidenangst. Wenn sie sich anpassen müssen/sollen oder aber mehr von ihnen verlangt wird, sie zeigen sollen, was sie drauf haben, geschieht es dennoch nicht selten, dass sich eine Panikattacke ankündigt. Als würde der Sensor im Inneren, die Seele oder das Herz, der Geist oder das höhere Ich wie ein schlafender Hund aufschrecken und bellen.
Dein Körper weiß sehr viel besser, was du unterbewusst festgelegt hast – und unterstützt dich
Dein Körper verweist dich auf die richtige Antwort, wenn es um die Frage geht: „Was ist normal, gut und richtig?“ In den meisten Fällen verspüren wir entweder ein dumpfes Bauchgefühl, die Stimme unserer Intuition, oder unser Körper reagiert ganz eigens mit Angst, Panik oder anderen Symptomen wie Bauchgluckern, Verkrampfungen der Muskulatur, Holzstolpern, feuchte Hände usw. Da sich unser Körper dem fügt, was wir unterbewusst festgesetzt haben, handelt er entsprechend unterstützend.
Wenn du es für sicherer hältst, aus bestimmten Gründen Zuhause zu bleiben, weil du dort arbeitest oder so stets in der Nähe eines Elternteils, Partners oder Kindes sein kannst, geschieht es oft, dass dich dein Körper unterstützt und so „Anflüge“ von Ausbrüchen und Trennungen verhindert. Die würden dein Leben instabil machen oder bei dir für ein bestimmtes Gefühl sorgen, was in deinem Unterbewusstsein als „falsch“ eingestuft wurde. Irgendwann in deinem Leben entwickelten sich für alle möglichen Bereiche diese Landkarten, die als Glaubenssätze benannt werden. Aber es sind streng genommen weit mehr als nur Sätze, die unseren Glauben widerspiegeln. Sie sind Landkarten aller möglichen Konsequenzen, die eintreten könnten/würden, wenn du X tätest. So macht es dir dein Körper leichter und unterbreitet dir die Möglichkeit, nicht länger zweifeln zu müssen, sondern dich zu fügen.
Ich zum Beispiel bekam immer dann Angst und Panik, wenn ich freundlich sein musste, obwohl ich meinen Gegenüber unsympathisch fand oder einfach nicht mit ihm warm wurde, wenn ich an Orten oder zu Events war, bei denen ich nicht sein wollte, aber zu denen ich mich hatte überreden lassen, um jemanden nicht abweisen zu müssen. Mein Körper reagierte auch, wenn ich mit den Bedürfnissen anderer konfrontiert war, die meinem Weltbild nicht entsprachen. Entweder ich wurde krank oder bekam Angst und Panik. Wenn ich überarbeitet war, aber versuchte, noch durchzuhalten, geschah dasselbe. Der Stress, den Menschen auslösen, was heute als sozialer Stress anerkannt wird, ist immens und absolut unterschätzt in der Ursachenforschung bezüglich Angst und Panik. Unsere Rollen, die wir glauben spielen zu müssen, um nicht unbequem zu werden, aufzufallen, im Extrem ausgegrenzt zu werden oder um etwas, was uns am Herzen liegt, bewahren zu können, bringt uns näher an Angst und Panik heran und sehr, sehr weit weg von Authentizität und Mut, anders und eigenartig zu sein.
Wie du authentisch anders und eigenartig leben kannst
Unweigerlich gehört zu einem authentischen Leben vor allem Willenskraft und der unbedingte Glaube an sich selbst. Dass du alles durchstehen würdest, womit dich dein Leben konfrontiert, zum Beispiel, oder dass du Anhänger fändest, eben WEIL du anders und eigenartig bist. Als ich gezwungen war (in meiner Angst- und Panikzeit), mich dem hingeben zu müssen, was und wer ich WIRKLICH war, verlor ich Menschen, von denen ich nie geglaubt hatte, dass ausgerechnet sie sich abwenden würden. Interessanterweise aber waren es genau die Personen, bei denen ich Rollen zu spielen hatte. Dafür gewann ich Menschen, bei denen ich nicht im Leben gedacht hätte, Eindruck zu machen. Meine Unbequemlichkeit zum damaligen Zeitpunkt zeigte ihnen, dass ich Werte hatte, die im Einklang mit ihren Zielen standen und dass ich bereit war, auf Teufel komm heraus, für diese einzustehen – und nach mir die Sintflut. Alles in allem war es eine sehr turbulente Zeit, aber sie zeigte mir einmal mehr, dass es sich lohnte, keine „Krankheit“ zu brauchen, um sich vor Situationen und Menschen zu schützen – oder vor sich selbst.
Die Angst vor sich und seiner natürlichen Gewalt ist im Übrigen eine der größten Herausforderungen, die ich seither erlebe – nicht nur bei mir, sondern bei allen meinen LeserInnen. Instinktiv – nicht intuitiv – fahren sie immer wieder aus ihrer Haut und damit aus ihren wohl einstudierten Rollen, aber sie fallen genauso schnell wieder in das alte Schema zurück. Als würden sie die ersten Gehversuche machen und sich erproben. Ohne sich sofortig schlagartig ändern zu müssen, tasten sie sich langsam vor und machen es hier und da anders als sonst. Bewusst und gezielt schauen sie an den Reaktionen der verschiedenen Menschen, bei wem sie Rückhalt erwarten dürfen und bei wem nicht. Man kann verschiedene Verhaltensweisen ausprobieren, wenn die erste weniger erfolgreich war, um eine zu finden, die mehr Erfolg verspricht. Im Endeffekt bleibt einem aber wenig übrig, als diese Versuche anzugehen. Im eigenen Tempo wohlgemerkt.
Besonders erfolgversprechend fand ich, sich mit Menschen zu vernetzen, die auf dergleichen Wellenlänge sind wie man selbst. In den heutigen Zeiten, in denen es für alles ein Internet-Forum oder eine Facebook-, LinkedIn- oder Xing-Gruppe gibt, ist das wahnsinnig leicht. Man muss nicht einmal in der Nähe des eigenen Wohnortes fündig werden. Allein der Rückhalt durch die Erkenntnis, dass man nicht allein ist mit seinen Bedürfnissen oder Empfindungen, ist unbezahlbar. Es gibt einem das Gefühl, dass es richtig, gut und normal sein kann, so zu sein, wie man ist. Im Alltag aber ist man umgeben von Menschen, denen man sich angepasst hat, während man sein wahres Ich verheimlicht, um nicht für Aufruhr zu sorgen. Es fällt nur schwer, DU zu sein, weil es bislang keine Plattform mit Menschen gab, die nicken und sagen: „Verstehe dich völlig. Geht mir genauso.“ oder „Super. Weiter so!“ So etwas braucht man aber, wenn man versucht, sich seinem wahren Selbst anzunähern.
Ich beispielsweise habe es mir angewöhnt, nicht im deutschen Sprachraum, sondern im englischen, nach solchen Foren und Netzwerken zu schauen. Bei den Amis ist es irgendwie normaler, nicht normal zu sein. Selbst als ausstudierte Amerikanistin kann ich bis heute keinen Grund dafür benennen. Aber man wird herzlich willkommen geheißen, während man hier in Deutschland komisch beäugt wird. Wir Deutschen sind einfach sehr kritisch. Ich bin zum Beispiel in allen großen Facebook-Gruppen für Empathen, in Übungsgruppen für Spiritualität und mehr. Dort fühle ich mich wohl und verstanden, gesehen und ich weiß durch die vielen Posts anderer, dass ich bei einer Frage oder einer Unsicherheit nur etwas posten muss, zum Beispiel: Was andere in Fällen von XY machen, um sich besser zu fühlen. Man bekommt so viel Unterstützung und Geborgenheit geschenkt, die ich im normalen Leben und Alltag hier in Berlin nur bedingt habe.
Was tust du, um authentisch und wohlig anders zu leben? Ich freue mich auf deinen Kommentar!
Alles Liebe bis dahin,
Janett
Ich glaube, bevor man authentisch leben kann, muss man sich mit seinem eigenen „Anderssein“ ausgesöhnt haben und dieses als Normalität für sich selbst setzen. Als Mensch mit Behinderung habe ich daran noch zu arbeiten.
Lieber Michael,
das stimmt. Was bleibt einem anderes übrig? Mir fiel es leichter, als ich daran scheiterte, „normal“ zu sein.
Liebe Grüße,
Janett