Fühlst Du Dich häufig gefangen oder unbeachtet, unterwürfig oder wie ein Opfer, klein und misstrauisch, angegriffen und ohne Kontrolle über Situationen, bedürftig und unbefriedigt in all Deinen verschiedenen Bedürfnissen? Dann schreit das Kind in Dir, egal, wie alt Du heute bist.
Hermann Hesse sagte einmal: ’’Es gibt nichts Wunderbareres und Unbegreiflicheres und nichts, was uns fremder wird und gründlicher verloren geht als die Seele des spielenden Kindes.‘‘ Unsere Welt und das Leben, was wir in ihr leben, ist laut Statistik besonders in Deutschland, sowohl für Männer, als auch Frauen, seit den 70er Jahren schwieriger geworden. Bas Kast sagt, es läge an den vielen Optionen, die wir haben, aus einer übersehbaren Fülle das Richtige für sich herauszufinden und sich zu trauen, es zu ergreifen.
Aber dazu brauchen wir Mut, Initiative, Selbstvertrauen, Vertrauen in andere, Wissen um unsere Kraft und Entscheidungsfähigkeit. Wenn wir die nicht in unserer Kindheit lernen durften, dann bleibt es auch im erwachsenen Leben schwierig, außer wir kümmern uns heute um all das, was unsere Kindheit uns an Erlaubnissen absprach. Die amerikanische Therapeutin Pamela Levin entwickelte die 13 Jahre-Entwicklungszyklen, in denen wir Erlaubnisse für bestimmte Fähigkeiten erhalten und diese so entwickeln können. Denn: Levin geht davon aus, dass sich unsere Kindheitsbedürfnisse alle 13 Jahre wieder neu zu Wort melden. Alle 13 Jahre fängt unser verletztes, bedürftiges, leeres Kind in uns an, zu toben und zu brüllen und zu fordern, was ihm zusteht.
Sie geht ebenfalls davon aus, dass wir Menschen in jeder dieser Phasen Fähigkeiten entwickeln (müssen), die uns in unserer Zukunft zugutekommen, in dem wir Selbstvertrauen und Intimität, Trennung und unsere eigene Identität kennenlernen, sowie das eine Wissen verinnerlicht haben, dass wir einfach und vor allem da sein dürfen.
Sind wir jedoch in einer Familie groß geworden, in der wir Mangel erlitten oder unter den Einschränkungen unserer Eltern litten, anstatt unsere Bedürfnisse und Grenzen zu setzen und zu leben, und so lernen zu können, welche Fähigkeiten wir haben, kann das leicht zu Schwierigkeiten in unserem Erwachsenenleben führen.
Wir lernen von unseren Hauptbezugspersonen, Eltern oder Familienmitgliedern bzw. Lehrern oder Gleichaltrigen. Werden wir im Lernen einer oder mehrerer dieser Fähigkeiten unterbrochen bzw. wird uns die Erlaubnis verwehrt, wäre die geringste Konsequenz, dass wir mit dem Halbgaren an Persönlichkeit versuchen, als Erwachsener in unserer heutigen Zeit der Fremdbestimmung, Abhängigkeit, Hektik und Isolation durch soziale Medien, Schönheitsideale, dem Arbeitsmarkt und den lauernden Gefahren entgegenzuwirken. Dabei sind wir unschuldig. Wir hatten in unserer Kindheit keine andere Wahl. Wir waren abhängig von dem, was wir durften und was uns unsere Beugspersonen sagten/erlaubten.
Was bedeutet eigentlich dürfen in diesem Zusammenhang, fragst Du Dich vielleicht? Es handelt sich hier um Fähigkeiten, die Deine Bezugspersonen selbst nicht aufwiesen. Wenn man etwas kann, kann man es Dir beibringen. Wenn man etwas nicht kann bzw. nicht will, wird man es Dir nicht zeigen/beibringen. Für Pamela Levin bedeutet das: Deine Entwicklungsphase blieb unvollständig. Das „Loch“ ist auch heute noch vorhanden, außer Du hast es geschafft, es in der Vergangenheit allein zu stopfen.
Konsequenzen einer unterbrochenen Entwicklungsphase
Einem „erwachsenen Kind“ kann das große Schwierigkeiten bereiten, da es stets auf die Probe gestellt wird und allenfalls mit Kampf und Trotz erreicht, was ihm ein Bedürfnis zu sein scheint. Viele erleben, dass sie
- klein gehalten werden,
- übertrumpft werden,
- unterwürfig, von oben herab behandelt werden
- in die Opferposition gedrängt werden
- „nichts zu sagen haben“
- „ja eh nichts können“
- sich verstellen
- Gefühle weder fühlen „dürfen“, noch zu ihnen stehen
- Gefühle wie Freude, Neugier, Optimismus, Wut, Grenzen und Angst in und für sich behalten (Ursache für Angststörungen, in meinen Augen) müssen
- bestraft werden, wenn sie Fehler machen,
- zum Beispiel durch Liebesentzug, Trennung, Streit, Kündigung
oder aber, um das zu vermeiden, mit Mitteln kämpfen müssen, die Verheimlichung, Schein oder Aggression und Ärger in den Vordergrund stellen und Opfer hervorbringt.
In beiden Fällen kann weder von Gegenseitigkeit, noch von Selbstvertrauen bzw. dem Gefühl einer eigenen Identität oder Würde die Rede sein. Ich benutze die Wortgruppe „erwachsenes Kind“, da wir als Kind in unserer Ich-Entwicklung unterbrochen, gestoppt, gehemmt wurden, und „erwachsen sein sollten, obwohl wir noch Kind hätten sein dürfen“.
In der Literatur findet sich die begründete Annahme, dass unsere Bezugspersonen erwarteten, dass wir uns wie sie verhalten. Wenn sie sich nicht trauen, ihre Gefühle zu leben oder sich minderwertig fühlen, sollen wir das auch fühlen. Alles andere würde sie selbst zwingen, sich mit ihren Wunden aus der Vergangenheit auseinanderzusetzen, was, so haben sie es gelernt, in ihrer Kindheit (ebenfalls) vermieden werden musste. Was sich unsere Bezugspersonen nicht erlaubten, durften wir in unserer Kindheit auch nicht.
Aber wir können das ändern.
Was wir hätten lernen sollen
Wären wir uns unserer RECHTE und auch Grenzen bewusst geworden, weil uns jemand gelehrt hat, dass wir welche haben und brauchen, hätten wir werden können, was wir hätten werden sollen.
Wir hätten uns von den Einschränkungen aller Menschen befreien können und es wäre weitestgehend alles okay. Wir wären voller Selbstvertrauen und Selbstwert, Mut und Optimismus, spielerischer Freude am Ausprobieren, trotz Hinfallen würden wir wieder aufstehen und weitermachen, wir wären neugierig, voller Gefühl und Liebe und wüssten, dass wir einzigartig, geliebt, weil liebenswert, und willkommen sind. Wir könnten uns respektvoll trennen und auch im Umgang mit schwierigen Situation wüssten wir, dass wir Problematisches oder Fehler nicht mit Trennung oder Liebesentzug bezahlen „müssten“, wir hätten unsere Grenzen sowie die Fähigkeit, unsere eigenen und die anderer zu erkennen und zu wahren, wären zu tiefer Intimität und Nähe fähig und hätten Selbstverwirklichung erfolgreich ausprobiert.
Was viele von uns stattdessen lernten
- Scham: Angst, positive/negative Gefühle zu haben
- Scham: Angst, unsere positiven/negativen Gefühle auszudrücken bzw. auszusprechen (ohne das nagende Wertlosigkeitsgefühl)
- Scham: ungenügend zu sein oder unfrei, abhängig wie ein Kind, mit der allseits umgebenden Illusion, gehorsam sein zu müssen, sonst… (wäre jemand sauer (Konfrontation), würden wir verlassen werden oder müssten Liebesentzug erleiden)
- Traurigkeit: über ungelebte und unbefriedigte Gefühle, was wir nicht bemängeln konnten/durften
- Wut/Ärger: über Einsamkeit in der Kindheit, „im Stich gelassen zu werden“ oder unzureichende Aufmerksamkeit erhalten zu haben, nicht Kind sein durften oder die „Neurosen“ (so nennt es C. G. Jung) der Eltern, also deren Unfähigkeiten, ertragen zu müssen, wodurch wir selbst in unserer Entwicklung gehemmt bzw. gestoppt wurden.
- Angst: all das zu fühlen (obwohl wir vielleicht meinen, wir dürften diese Gefühle nicht haben).
Also verdrängt man. Wir verdrängen alles, was annodazumal verdrängt werden musste, um in unserer Kindheit mit unseren Bezugspersonen in größtmöglicher Harmonie zu leben, denn immerhin war Harmonie wichtig, um die schlimmsten Konsequenzen für ein Kind nicht erleben zu müssen: Trauer, Liebesentzug, Trennung, Bestrafung, Schmerzen, Einsamkeit, Angst um die eigene Existenz (aufgrund unserer Abhängigkeit wegen Brot, Wasser, Dach und Liebe). Wenn wir heute in ähnliche Situationen kommen, wird automatisch Angst (auch Panik) ausgelöst, weil das Kind in dir meint: „Hey, jetzt ruhig bleiben und nicht das Bestehen des Umfelds gefährden.“ Hinzu kommt, dass sich in unserem Kopf eine Verbindung gebildet hat, die das Wenige und das zeitgleich Bedürftige, was in uns lebt, mit dem Stillhalten bzw. Bravsein verknüpft. Als Gleichung:
Bedürfnis nach Liebe und Aufmerksamkeit + Identität bilden wollen + Beschränkung durch die „Neurosen“ von Bezugspersonen + Bravseinmüssen = Sicherung des Umfeldes = Überleben
In schwierigen Familien gehen die Erlaubnisse, die wir für unsere Entwicklung brauchen, unter bzw. werden gehemmt. Pamela Levin geht davon aus, dass der erwachsene Mensch sich an diese Erlaubnisse alle 13 Jahre erinnern muss bzw. wieder festigen muss, um das eigene Leben auf eigene Weise gestalten zu können. Das bedeutet auch, dass sie glaubt, wir können uns als Erwachsene selbst und unterstützend jene Erlaubnisse erteilen, um unser inneres Kind zu heilen.
Die vier wichtigsten Lernziele unseres Lebens
- Hoffnung (Selbst- und Vertrauen anderen Menschen gegenüber, anstatt Misstrauen und lernen, dass die Welt sicher ist und wir in ihr leben dürfen, einfach und genauso, wie wir sind, uns voll ausleben dürfen)
- Willenskraft (die Kraft und der Mut zu Abgrenzung für unser Wohl sowie Selbstständigkeit, anstatt Scham und Selbstzweifel)
- Entschlossenheit (die Initiative zu ergreifen, wenn wir etwas verwirklichen möchten, anstatt Schuldgefühle)
- Kompetenz (Streben und Fleiß anstatt Minderwertigkeitsgefühle und Perfektionismus). Auch die Fähigkeit, sich zu trennen (unser Elternhaus zu verlassen) und auf uns und unsere aufgebaute Identität zu hoffen, ist Bestandteil dessen.
Zusammengefasst: Trotz all unserer Abhängigkeit haben wir gelernt, dass wir uns durchsetzen können und dürfen und sich die Welt weiterdreht, wir nicht z. B. verlassen werden. Schon an diesen vier Fähigkeiten kannst du sehen, was in deiner Kindheit gehemmt wurde bzw. sich noch stärker hätte entwickeln müssen. Diese Beschreibung ist das Wesentliche der ersten zwei 13Jahre-Zyklen (Alter: 0-26 Jahre).
Der 13jährige Zyklus der Erneuerung im Detail
Anhand der folgenden Auflistung kann man leicht herausfinden, wann es zu einer Hemmung in den eigenen Entwicklungsprozessen kam. Was genau, beim Lesen, fühlt sich unstimmung an und wurde als Erlaubnis verwehrt?
Geburt bis 6. Monat – SEIN: Es ist schön, dass es Dich gibt – Du hast ein Recht hier zu sein, einfach so zu sein, Du kannst mir Vertrauen
6. bis 18. Monat – TUN: Entdecke Deine Welt – Du darfst neugierig sein und alles ausprobieren, Du kannst allein sein, Du bist Du, Es gibt Grenzen, Du hast einen Willen und Kraft
18. Monat bis 3 Jahre – DENKEN: Du kannst denken – Es ist okay,wenn Du Grenzen ausprobierst
3 bis 6 Jahre – IDENTITÄT: Du darfst forschen, wer du sein möchtest – Finde Deine Identität, Du darfst Visionen haben und entwickeln
6 bis 13 Jahre – GESCHICKLICHKEIT: Du kannst alles auf Deine Art und Weise tun – Du hast ein Gewissen, Ziele und Werte, Du kannst lernen
13 bis 18 Jahre – ERNEUERUNG: Du darfst Dich trennen und in Liebe gehen – Du wirst erwachsen, erfährst Intimität und entdeckst Deine Sexualität, Du bist wer, Du hast Gefühle
ab 19 Jahre – WIEDERAUFBEREITUNG: Du darfst Dein Leben gestalten – Jetzt geht’s los, Du darfst eigenverantwortlich handeln, Du kannst lernen, strebsam sein
26 bis 39 Jahre – VERTRAUEN, INTITIATIVE, VERLASS und ZUGEHÖRIGKEIT, INTIMITÄT und LIEBE (mit tiefen Bedürfnissen, Machtkämpfen, Streben nach Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung, Kooperation und Partnerschaft): Du darfst sein, wer Du bist – Du darfst fühlen, dich neu entwerfen, treu sein, Dich hingeben, Deine Leidenschaften leben, Du bist einzigartig
39 bis 52 Jahre – HOFFNUNG, VERTRAUEN, SINNFINDUNG, WILLENSKRAFT, ENTSCHEIDUNGEN FÜR VIELE LEBENSBEREICHE, SELBSTSTÄNDIGKEIT, INITIATIVE, HOFFNUNG, VÖLLIGE UNABHÄNGIGKEIT: Du kannst lieben, Nähe zulassen, Intimität zulassen, allein sein, Du hast Kraft, kannst viel schaffen, für Kinder sorgen und fühlst Dich dem Leben verpflichtet, Du darfst Dich dem Leben vertrauensvoll hingeben
52 bis 65 Jahre – GLAUBE, ÜBERGEORDNETE ZUSAMMENHÄNGE, DIE ZWEITE KINDHEIT, ABFINDEN MIT DEM ÄLTERWERDEN, REFLEXION: Du bist weise, akzeptierst andere und Dich so, wie sie sind/wie Du bist, Du erkennst das große Ganze (Ende der Lebensjahr-Angaben in der Literatur)
Jetzt handeln
Was kann ein Mensch tun, der eine Unterbrechung in seinen Entwicklungsprozessen erlebt hat?
- Sich verdeutlichen, dass er unschuldig ist und es außenstehende Gründe gab, die etwas mit anderen Menschen zu tun hatten
- Herausfiltern, wann im Prozess die Hemmung stattfand (in welchem Alter) und welche Erlaubnisse fehlten
- Sich diese Erlaubnisse selbst erteilen (aus der Sicht eines Erwachsenen an sein inneres Kind)
- Unterstzützend kann man sich ein Foto aus der Altersperiode nehmen und sich mit dem Foto in der Hand „erlauben“, was fehlte
- Regelmäßig mit dem inneren Kind an der Hand bei Angst oder Panik nach draußen gehen und üben, wenn Angstattacken kommen, genau dann mit dem inneren Kind zu sprechen und ihm zu erlauben, dass es Gefühle haben darf
- Sich selbst als Erwachsener erlauben, Gefühle zu haben (alle, auch Freude und Liebe sowie Wut und Angst und Trauer)
- Sich selbst als Erwachsener erlauben, diese Gefühle, die bislang nicht gezeigt werden durften, zu zeigen (bei Freunden anfangen oder bei Menschen, die man nicht kennt, im Internet oder an Orten, an denen die Anonymität größer ist)
- Ein Tagebuch führen, als Erwachsener, und Briefe an sein inneres Kind schreiben bzw. aus der Sicht des Kindes Briefe an sich als Erwachsener schreiben
- Trauern um das, was fehlte oder nicht sein sollte
- Wenn möglich: Die Wut jetzt herauslassen, die Liebe jetzt einfordern, gern auch mit berechtigten Vorwürfen und Forderungen an die Bezugspersonen
Tipp von mir als Coach: Jeden Morgen nach dem Aufstehen einfach alles aufschreiben, was einem in den Sinn kommt (Morgenseiten von Julia Cameron) und sich einen Plan für den Tag machen, ihn aufschreiben (Was werde ich heute, nachher, heute Abend, etc. tun? Welches Buch werde ich lesen? Was werde ich essen? Was würde mich glücklich machen? Wen möchte ich mal wieder anrufen? Welche Musik stelle ich auf volle Lautstärke? –> kurzum: Visualisieren, wie Dein Tag aussehen soll. Kommt dann jemand daher (und das passiert anfangs oft), dann erkenne genau, dass das ein Test ist, der Dich in Deiner Absicht, Dein Leben so zu leben, prüfen soll. Erkenne genau, dass Du dann einen anderen, nämlich Deinen Plan, morgens aufgestellt hattest, und bestehe darauf, vor allem vor Dir selbst, diesen Plan so zu verwirklichen.)
LG
Janett
Quellen:
Levin, Pamela: Cycles of Power: A User’s Guide to the Seven Seasons of Life
Bradshaw, John: Das Kind in uns. Wie finde ich zu mir selbst
Kast, Verena: Abschied von der Opferrolle
Kunze, Monika-Irene: ICH-DU-WIR im Jetzt & Hier. https://www.ihp.de/assets/files/Manus/2008_06web.pdf (abgerufen am 23.08.15)
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