Gleichgewicht hat heute viele Namen: Balance, Ausgeglichenheit, die goldene Mitte oder überhaupt eine Mitte, kein Oben und kein Unten. Nur ein Gewicht auf beiden Seiten, das die Waagschale in einer Waagerechten hält. Früher wollte ich – wie so viele – von allem Guten möglichst viel. Ich liebte viel gutes Essen, viele gute Stunden mit meinen engsten Bezugspersonen, viel Stille, viel Spaß, viel Anerkennung, viel Freizeit, viele interessante Gebiete, in denen ich mich beruflich und persönlich austoben konnte, und vieles mehr. Heute sehe ich einiges anders. Heute glaube ich zu verstehen, was dieses Sprichwort meint:
Nichts ist so gut, dass man es immer tun sollte. Nichts ist so schlecht, dass man es nie tun sollte.
Licht und Schatten im Gleichgewicht: Wieso „zu viel“ des Guten doch nicht so gut ist
Ich beschäftige mich seit geraumer Zeit mit Schattenarbeit. Ich wollte wissen, was es da noch gibt, außer das Gute, dem wir hinterherjagen, dem, was uns anzieht. Ich persönlich möchte nicht mehr aus allen Wolken fliegen und mit meinem Hintern auf dem Boden ankommen, nur weil ich dem Irrglauben erlag, dass das Erreichen von Zielen und Verwirklichen von Träumen das Nonplusultra wäre. Ich will keine Trennungen mehr erleben, nur weil ich in meinen Partner etwas hineinprojiziert habe, weil ich ihm das Menschsein angeträumt habe. Ich möchte nicht mehr alles hinschmeißen und aufgeben, nur weil sich kleinere Hürden zeigen. Auf der anderen Seite möchte ich nicht mehr nur alles Schlimme, was mir widerfuhr, als partout schlecht abtun. Mir ist es heute wichtiger, mit dem Schlechten am Guten umgehen zu können, statt enttäuscht zu sein, wenn etwas geschieht, womit ich nicht gerechnet hatte.
Vor allem aber gebe ich mir Mühe, zu verstehen, dass ich nur ein Mensch bin – der eben auch seine Schattenseiten hat und ein Leben lebt, was nicht immer gut sein kann – und auch nicht sollte. Polarität eben. Ich investiere sehr viel Zeit darin, zu beobachten, was ich plötzlich nicht mehr will, weshalb sich Änderungswünsche und Resignation in vormals so tollen Situationen ergeben und woher diese überhaupt kommt. Kurz gesagt: Ich suche und versuche mich in der Akzeptanz von Schwarz neben Weiß, Yin neben Yang, Böse neben Gut und Minus neben Plus.
Doch in Bezug zu allem, was ich hier auf IhaA je thematisierte, steckt der Glaube, dass alles gut ist, so wie es ist und alles Schlechte (ja, besonders die Angst) ein ungeheuer großes Potenzial in sich birgt. Doch wie auch beim Wort ANGST, ist es leichter und wünschenswerter, das Negative loszuwerden und so zu tun, als wäre alles prima. Wie schön es doch gewesen wäre, damals in meiner Agoraphobie mit Panikstörung, einfach über die aus dem Gleichgewicht geratenen Ängste hinwegzusehen und weiterzumachen. Doch heute weiß ich, dass auch Angst ihre guten Seiten hat. Heute erlebe ich täglich, dass selbst die als unerschütterlich gedachten Beziehungen und Glaubensmuster, Ideen und Pläne von Null auf Jetzt ins Negative kippen können. Der Gedanke daran macht mir keine Angst mehr – keine Angst mehr vor dem Ungewissen, keine Angst mehr vor Verlust oder Trennung, vor Veränderung oder dem Gegenteil von dem, was ich für lebenswert halte.
Wie das kam? Eben weil ich wieder lernte, das Negative zu sehen und in jede Situation mit der Gewissheit zu gehen, dass auch sie Tiefen birgt, die (noch) verborgen sind. Eine der größten Erkenntnisse meiner Angstzeit: Nichts ist immer nur gut. Idealerweise ist es ausgewogen. Idealerweise bin ich im Gleichgewicht, kenne meine guten und negativen Seiten, meine Fähigkeiten und noch nicht ausgeprägten Fähigkeiten, weiß, was ich kann und was nicht, was ich möchte und was nicht.
So birgt jedes Glück das Potenzial eines Unglücks und jede Liebe den potenziellen Schmerz, jedes Licht kommt mit Schatten und jeder Job, jede Verbindung, jedes Hoch kann irgendwann ein Tief erleben. Das ist der stete Wandel, von dem alle sprechen – der, der unvermeidbar ist. Heute verstehe ich das. Heute kann ich das mit einem Lächeln akzeptieren.
Heute weiß ich, dass dieser Wandel, die stete Veränderung, auch aus dem vermeintlich Schlechten etwas Gutes zaubern kann – dass dahinter ein Geschenk liegt, was man noch nicht sehen kann. Allein dass ich mehrmals Panikstörungen hatte, führte dazu, dass dieser Blog hier existiert – ein sehr großes Geschenk für mich und viele LeserInnen. Es ist heute das Fundament meiner Selbstständigkeit und mehrerer Bücher, die ich deswegen veröffentlichen konnte. All das nur wegen Panikstörungen, die mich haben völlig verzweifeln lassen. Auch ich dachte, ich würde sie nie loswerden, dass sich nichts Gutes aus so einem Schmerz erschaffen ließe.
Wie wir Ausgeglichenheit erreichen können
Ausgeglichenheit und ein Leben im Gleichgewicht sollte nicht erst angestrebt werden, wenn es im Mangel ist, wenn plötzlich akuter Stress und seine Symptome da sind. Man braucht nicht bis zum Stress und Leid zu warten, um sich an ein fehlendes Gleichgewicht (in sich oder im Außen) erinnern zu dürfen. Wenn es fehlt, muss es wiederhergestellt werden, sonst erledigt es die Natur von allein, bringt anfangs Kopfschmerzen, später Verspannungen, grippale Infekte, Migräne, Verdauungsstörungen bis hin zu Symptomen mit Krankheitswert. Das ist die unbequeme Wahrheit, die man sehen, als solche erkennen und annehmen muss, um den Schritt raus aus Situationen zu gehen. Der Körper und die Seele mag gewaltige (Abwehr)Kräfte haben, aber irgendwann sind diese aufgebracht.
Viele glauben auch, Gleichgewicht hieße ständige Harmonie, müsse erzwungen werden oder könne nur durch Anpassung erreicht werden. Wir alle möchten gern die Regeln machen, die Kontrolle über unser Leben haben, es in unsere gewünschten Bahnen lenken – ohne, dass uns irgendjemand oder irgendwas ein Bein stellt. Du sicher auch, oder? Man vergisst diesen Wunsch nach Macht über sein eigenes Leben (und natürlich auch die Menschen darin) gern. Es gehört sich nicht, narzisstisch zu sein und es sieht meist unschön aus, wenn man einmal nur an sich denkt. Viele bedenken einen dann mit Egozentrik oder Egoismus. Doch jeder Mensch auf dieser Welt hat seit Kindestagen diesen einen Wunsch: Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erhalten sowie mit Liebe behandelt zu werden. Trotz aller Fehler, trotz aller Mängel, einfach nur dafür, dass man so ist wie man ist. Doch da es vielen Kindern abtrainiert wird und viele lernen müssen, sich zu verstellen, um Liebe zu bekommen oder wenigstens Teil zu sein, lernen sie gleich mit, ihre Bedürfnisse zu verbergen und still darüber zu trauern, dass sie nicht gesehen werden.
Je mehr man anderen im Erwachsenenalter den Hintern küsst oder wenigstens so tut, als hätte man Spaß daran, im Schatten anderer zu stehen, umso mehr verheimlicht man seine Bedürfnisse und Ziele. Man hat sein Umfeld so daran gewöhnt, dass man das ist, was es sehen will, dass die Menschen tatsächlich aus den Wolken fallen würden, wenn man sich von heute auf jetzt änderte. Doch Gleichgewicht und Ausgeglichenheit bedeutet auf beiden Seiten (auf deiner und der deines Umfelds) eine ausgeglichene Waagschale.
Aber um Gleichgewicht zu erreichen, müssen sowohl die guten als auch negativen Seiten ausbalanciert sein: Das heißt, dass Harmonie auch Disharmonie braucht, Fleiß auch Faulheit, Trubel auch Entspannung, Lautstärke auch Stille, Sitzen auch Stehen und Bewegung usw. Im Yoga würde man jetzt sagen, dass man nach Vorbeugen Rückbeugen machen soll. Im Sport würde man sagen, dass das Trainieren der Bauchmuskeln auch das Trainieren der Rückenmuskeln bedarf, sowie das Herz und der Blutdruck voneinander abhängen. So wie der Tag die Nacht braucht.
Unseren Schatten abspalten für zu Ungleichgewicht und Unausgeglichenheit
Ist die eine Seite zu weit oben und du zu weit unten oder der eine stärker mit mehr Rechten, gibt es von dem einen zu viel und vom anderen zu wenig, dann sprechen wir von Ungleichgewicht und Unausgeglichenheit. Das geschieht in Beziehungen, Freundschaften, Familie, im Job, im Urlaub, im Alltag bis hin zu Sport, Ernährung, Sexualität, Geld usw. Aber man kann es nicht immer ad hoc ändern. Doch was man ändern kann, ist seine eigene Einstellung zu dem Schlechten, das immer Teil von allem ist.
Wenn jemand Beziehungsangst hat oder Angst vor Trennungen, Angst vor Verlust oder allein zu sein/bleiben, dann spricht hieraus genau dieselbe Ablehnung des Schlechten wie auch aus Menschen, die sich immer so präsentieren, als wäre alles wunderbar und als täte nichts weh. Natürlich ist man selbst der/die Beste, würde nichts verkehrt machen, wäre am Ziel angekommen und blablablubb. Doch hinter der Saubermann- und Gutsmensch-Fassade lauert eine Gefahr, die man in der Psychologie Schatten nennt. Je mehr wir vom Schlechten an uns abspalten, uns verwehren, verheimlichen, nicht eingestehen, desto mehr bilden wir diesen besagten Schatten aus. Und es kommt der Zeitpunkt, an dem uns unserer Körper und unser Geist diesen Schatten um die Ohren haut.
Je mehr ich früher so tat, als würde ich mit allem zurechtkommen, desto mehr Panikattacken hatte ich. Je mehr ich vorgab, dass ich xyz unglaublich fantastisch fand und ein Glück, dass ich ihn getroffen hatte, desto mehr Angst und innere Abwehr entwickelte sich. Je mehr ich vorgab, etwas zu sein, was ich nicht war, je mehr ich so tat, als gäbe es keine Probleme, als hätte ich keine Bedürfnisse oder Werte oder Ziele, als würde mich nur das interessieren, was meinen Gegenüber, Kollegen oder vermeintliche Freunde anging, desto mehr erlebte ich Panik.
Desto mehr verlor ich mich.
Ich wurde von meiner Angst gezwungen, mir einzugestehen, dass es mich gibt, dass ich etwas in meinem Inneren hatte, das genauso lebenswert und liebenswert war und dass ich genauso große Ziele und Bedürfnisse hatte. Genauso viel wusste (oder mehr), genauso viel Anerkennung für meine Arbeit brauchte, genauso viel Stolz empfinden wollte, wenn ich in meinen Augen etwas sehr gut gemacht hatte, genauso viel Unterstützung und Rat brauchte, wenn ich einmal nicht weiterwusste. Mir wurde zudem bewusst, dass es vieles gibt, was ich nicht konnte, wo meine Grenzen lagen und was ich nie können würde. Diese Liste könnte ich endlos fortsetzen.
Schritt 1 auf dem Weg zu Gleichgewicht und Ausgeglichenheit: Sag, dass du zu dir stehst!
Es ist zwingend und dringend, dass sich jeder aufrichtet und daran erinnert, wie fähig und wertvoll er ist. Lerne damit umzugehen, dass du JEMAND WERTVOLLES bist. Lies auch gern meinen vorherigen Blogpost zum Thema Schattenseiten und Respekt vor sich selbst. Die Erkenntnisse sind manchmal gar nicht so leicht, die ganze Wut und Traurigkeit aus dem Kopf zu werfen und die Gedanken zum Schweigen zu bringen. Mein damaliges Motto (gelernt von meiner Therapeutin) war deshalb: Lerne zu sehen und zu lieben, dass nichts und niemand auf dieser Welt je perfekt sein wird. Nicht einmal du selbst. Begib dich in deine eigenen Abgründe und sieh dir erst dann die Abgründe anderer Menschen und Situationen an. Trotz Angst. Aber beginne bei deinen eigenen.
Mir half es, (und ja, ich hatte Panikattacken, die so heftig waren, dass ich bis heute keine Worte dafür finde), aber es half. Es half zu sehen, wie weit ich mich vergaß. Ich bin nicht mehr böse über die Erfahrung. Ich habe die Lektion gut verstanden: Ein gesundes Maß an Du und Ich, an Viel und Wenig, an Kalt und Heiß, an Drinnen und Draußen ist essentiell. Auch, wenn andere darunter leiden könnten.
Menschen, die intensivste Angst kennen, sind unglaublich wertvoll für unsere Gesellschaft. Sie wissen, was es bedeutet, aus seinem eigenen Körper fliehen zu wollen, wenn sie Gleichgewicht im Geben und Nehmen und Wollen und Bekommen außer Acht lassen, ihre Entität (also sie als Wesen, das existiert) vergessen, weil ignorieren (wollen/sollen). Sie kennen die Missstände im Inneren und werden sich immer daran erinnern können, wie schwer es ist und war, wenn man keine Kontrolle mehr über seinen Körper und Geist hat. Sie werden es nie vergessen und werden sehr wahrscheinlich jeden, der gerade denselben Weg weg von sich geht, ermahnen, es zu lassen. Menschen, die Angst erlebt haben, sind wertvolle Wegbegleiter und Gefährten und kennen die wahre, dunkle Tiefe der menschlichen Gefühle. Die Seite, die die meisten Menschen da draußen so gern wegreden und ignorieren.
Sie wissen einfach, dass Flucht und Kampf aufgrund vermeintlicher Gefahren immer eine Reise zurück zum Eigenen ist, da wo wir leben, da wo wir verdrängen und so tun, als könne sich jeder seiner Verantwortung gegenüber sich selbst entziehen. Menschen wie du und ich haben eben eine Lektion erhalten, auf die wir sicher gern verzichtet hätten, aber die wir brauchten, um wieder zurück zu uns zu finden.
Liebe Grüße,
Janett
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