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Heute gibt es einmal keine alleswissenden, verkopften, starren oder altklugen, weil wissenschaftlich fundierten und „Irgendeine-Studie-hat’s-ja-eben-erst-aufgezeigt“-Weisheiten.
Heute gibt es nur die eine Seite, die die Gesellschaft weiblich nennt, die, die gern als schwach bezeichnet wird, die, die wir selten zeigen (oder jedenfalls ich). Für mich ist es die Stimme, die oft genug in uns schreit, weil sie sich befreit sehen will – entgegen aller Widersprüche, entgegen aller Auflagen und Fremderwartungen, entgegen aller Vernunft.
Mir fiel es in der jüngsten Vergangenheit, wie auch schon mein gesamtes Leben lang, schwer, stark zu bleiben. Stark zu sein verband ich oft damit, Unschönes und Negatives herunterzuschlucken, den Kopf oben zu behalten, Brust raus und einfach weitermachen. „Ich krieg‘ das schon hin! Ich lass‘ mich nicht unterkriegen!“ Trotz aller Geschehnisse und Hindernisse bäumte ich mich gerade, drückte meinen Rücken durch, hob die Nase und ging weiter. Aber in den letzten Monaten fiel es mir immer schwerer, das zu bleiben. Meine mühsam aufgebaute, unantastbare Hülle bricht mir seitdem Tag für Tag ein Stück weiter weg. Absichtlich und vorsätzlich. Das, was mir vormals Sicherheit zu geben schien, pulte ich mit Präzision, Durchhaltevermögen und Konsequenz ab.
Ich wusste nur: Starksein kann nicht heißen, dass man seine Gefühle vergisst, versteckt oder verneint.
Gefühle zulassen 1.0
…denn ich hatte so die Faxen dicke.
Ich hatte die Nase voll von mir und dieser Maske aus Unauthentizität, so wie von Menschen, die nur das Beste und Tollste von sich zeigen (durften), aber die Ecken und Kanten, Schwächen und Wunden verstecken, verhüllen (sollten) und so taten, als wäre alles wunderbar.
So wie ich allzu oft.
Ich bin seit meinem Gehäute tiefer und tiefer an eine Schicht meiner Persönlichkeit gelangt, die mir nicht länger erlaubt, zu sagen: „Hey, kein Problem! Das macht mir alles nichts aus!“
Denn verdammt – es gibt Tausende von Dingen, die mir etwas ausmachen. Die mich betreffen. Die mich berühren, mich verletzen, mich traurig und ängstlich machen. Auch ohne Angst- und Panikstörung. Neben all der Dankbarkeit, all der Selbstliebe, all den Atem- und Entspannungstechniken gibt es Phasen, in denen ich zu nix zu gebrauchen bin, weil ich einfach mal zu nichts zu gebrauchen sein möchte. Keine Ansprüche erfüllen, keine eigenen Erwartungen übertreffen, keine Aufmerksamkeit durch tolle Leistungen gewinnen.
Und das ist auch gut so, denn Gefühle zulassen beginnt bei einem selbst.
Gestern hatte ich ein Gespräch mit jemandem, der mir das Gefühl gab, dass es falsch sei, wenn und dass ich Gefühle habe, Gefühle zeige und sie ausspreche, zu ihnen stehe, auch wenn sie jemandem nicht passen oder Angst machen. Da hörte meine Rücksicht und Anteilnahme auf.
Heute verstehe ich, dass es genau diese Attitüde ist, die uns Menschen dazu bringen, eine Maske zu entwerfen und aufzusetzen. Mit viel Glück finden wir Menschen, wie enge Freunde oder gute Partner, die einem erlauben, alles zu sein, im vollkommenden Sinn alles an Gefühl zu sein, was man ist. Keine Unterbrechung, kein Kampf, keine Mühe und Wettbewerb um den ersten Platz… Na, wer ist heute wichtiger? Hm?
Ich musste in den vergangenen Monaten feststellen, dass es zwar schwer ist, alle Gefühle da sein zu lassen, sie auszuhalten, darauf zu warten, dass sie sich verwandeln. Aber dafür passiert etwas Wunderbares mit den Gefühlen: Sie werden dankbar. Auch so schmerzhafte Gefühle und Emotionen wie Scham, Schuld und Traurigkeit werden ganz sanft, wenn man ihnen erlaubt, da zu sein und ihnen Raum gibt. Es fühlt sich erst einmal wie ein Waldbrand an, aber wenn das Schlimmste vorüber ist, ist da nur noch Frischluft und Sonnenschein.
Als ich 2013 Agoraphobie hatte, hätte ich diesen Raum gebraucht. Damals verstand ich nicht, dass Agoraphobie und auch Panik ein Aufruf sind, um sich seinen Platz und Raum zu suchen, ihn einzunehmen und notfalls zu verteidigen. Ich begriff nicht, dass meine Gefühle Angst und Traurigkeit oder Wut da waren, um mir zu zeigen, dass mir mein Platz streitig gemacht wurde (und ich das fürchtete), weswegen ich meinen Halt zu mir selbst verlor. Ich erkannte nicht, dass ich es unterstützte, in dem ich meine Gefühle unterband und unterbrach. Verneinte. Abwehrte. Missverstand.
Auf einmal fiel es mir leicht, meine Gefühle zu lassen. Nicht nur, sie zuzulassen, sondern ihnen zu erlauben, zu machen, was sie gerade wollen, ihnen den Raum und ihre Zeit zu geben. Diese Maskierungen verletzen einen nur selbst. Man sucht dann – ist auch so schön einfach – im Außen nach dem Schuldigen, den Leuten, die einen irgendwas verbieten (wollen), aber tatsächlich ist man selbst verantwortlich. Niemand kann einem seine Gefühle verbieten. Kennst du das Gefühl, wenn man sich schuldig fühlt, weil man gewisse Gefühle hat? Als müsste man sich ent-schuld-igen, weil man nicht nur mit der Birne die Welt beleuchtet. In dem Gespräch gestern brüllte ich irgendwann sogar: Ich darf fühlen, was ich fühle.
Wenn man seine Gefühle zulassen will, dann lädt man natürlich auch die negativen ein, was sich nicht immer nett anfühlt. Gestern rief ich meine Traurigkeit, weil ich wusste, sie will jetzt endlich da sein.
„Scheiß auf’s Starksein!“ brüllte sie. „Hier läuft etwas schief und es macht mich traurig!“
Als ich sie rief, war sie da. Genauso wie zu Zeiten der Panik, als ich Angst hatte, wieder Angst zu haben, und daran dachte, was jetzt wohl wäre, wenn ich wieder Angst bekommen würde. Und zack, war sie zur Stelle: meine Angst. Nur dass ich meine Traurigkeit über Schiefgelaufenes gestern nicht fürchtete, sondern einlud. Heute früh waren meine Augen schwer, nicht nur, weil ich im Gespräch einige Tränen vergossen hatte, sondern auch weil das „Augen aufmachen“ einige Einblicke mit sich brachte, die plötzlich ziemlich grell vor mir standen. Es fühlte sich leer an, aber es war eine schöne Leere. Als hätte ich Platz frei geräumt, den ich nun mit Neuem füllen könnte.
Auch etwas Angst stand daneben und fragte mich:
„Und was nun? Was willst du jetzt machen, wenn du nicht mehr nur das bist, was andere haben wollen? Was wirst du heute sein? Wo ist heute dein Platz in dieser Welt, um den du gestern so sehr getrauert und gekämpft hast?“
Und eine andere Stimme, diese leise und verkannte, weibliche und intuitive Stimme, flüsterte: „Weißt was? Ich werde ihn finden.“
Gefühle zuzulassen hieß plötzlich meine Maske abzusetzen, die Erwartungen anderer und meine eigenen loszulassen. Es hieß: Scheiß‘ auf’s Starksein. Es hieß: Ich bin unschuldig.
Es bedeutet heute mehr denn je:
Ich. Bin. Genug.
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