Die Natur der Angst: (k)ein Problem

Angst ist eine völlig natürliche Reaktion auf Gefahren und äußert sich in unserem Verhalten und Erleben.

  • Sie beeinflusst unser Denken, unsere Aufmerksamkeit, unser Gedächtnis und unser emotionales Erleben,
  • Sie beeinflusst uns im Verhalten durch Fluchtimpulse oder Vermeidungstrategien,
  • Sie wirkt auf auf der körperlichen Ebene durch Alarmreaktionen im Nervensystem mit Symptomen wie u. a. Herzrasen, Enge in der Brust, Schwitzen, Beschleunigung des Atmens, Verdauungsstörungen, Zittern, Schluckbeschwerden.

Angst ist eine angeborene Anpassungsleistung des menschlichen Gehirns, um sich in Gefahrensituationen durch Ducken, Totstellen, Flucht oder Kampfbereitschaft vor Bedrohungen zu schützen. Heute gibt es Angststörungen, die ähnlich funktionieren. Dies liegt an einer andauernden Störung und Fehlsteuerung des Angst-Stress-Reaktionssystems. Dann sind die Angstreaktionen unangemessen und rufen enorme Einschränkungen und Belastungen bei den Betroffenen hervor. Angststörungen entwickeln gewisse eine Eigendynamik, die die unangemessene Angst durchgehend aufrechterhält.Die bleibt erstens in unwirklichen Gefahrensituationen übersteigert (z. B. durch Angstanfällen und Panikattacken) und es kommt zweitens zu einer ausgeprägten Erwartungsangst (die sogenannte Angst vor der Angst), die wiederum zu einer beeinträchtgten Lebensführung durch Vermeidung angstauslösender Situationen führt, oft in Verbindung mit daraus folgenden emotionalen Schwierigkeiten.

Angststörungen sind sehr weit verbreitet. In Europa belief sich die Zahl auf 40,4 Millionen im Jahre 2011 (Quelle: Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf), Tendenz, entgegen weitläufig publizierten Meinungen, ist rückläufig (2005: 58,4 Millionen). In Deutschland geht man gegenwärtig von rund 10 Millionen Angsterkrankten aus, deren Angst bis zur Berufsunfähigkeit oder mit erheblichen Einschränkungen für das Berufsleben einhergeht. Laut Bundesstatistikamt werden Angststörungen daher bis zur Heilung als für das Gesundheitssystem sehr teure Störungsbilder betrachtet.

Quelle: Bundesstatistikamt, Angststörungen [Gesundheitsberichterstattung – Themenhefte, Heft 21, Mai 2004]. www.gbe-bund.de. Abgerufen: 30.05.2015

Foto: Günther Gumhold/pixelio.de

 

 

 

Angst als gesellschaftliches Problem

Ich bin ein Feind des Wortes: Problem. Aber man muss heute wohl dieses Wort verwenden, wenn man von Angst spricht, um nicht komisch bestaunt zu werden. Ich gehe dieses Risiko ein und plädiere dafür, dass Angst ein Gefühl ist, was schwierig zu ertragen sein kann. Ich will Angst und ihre Symptome keineswegs bagatellisieren. Aber die Wahrheit ist nun einmal: Sie kommt und geht. Jeder weiß das. Daher weiß ich auch, dass es viele Faktoren gibt, unter anderem dieser eine, der alles zum Stehen oder Fallen bringt. Einsicht. Einsicht in dieses Gefühl, was uns ungewollt wieder zu kleinen, bedürftigen, abhängigen und traurigen Kindern macht, die nach Schutz suchen.

Dafür bin ich ein Freund und Verfechter von Verena Kast, die in ihrem wundervollen Buch Vom Sinn der Angst (HERDER spektrum) (2014) schrieb:

Angst ist für uns ein sehr vertrautes Gefühl, ob wir dazu stehen oder nicht. Es scheint ja ein ausgesprochenes Ideal zu sein, dass der Mensch möglichst angstfrei zu sein hat. Deshalb wohl haben wir auch so viele Ausdrücke für Angst, die die Angst auch ein stückweit bemänteln. So sagen wir etwa, dass wir angespannt sind, verwirrt sind, nervös sind, oder man spricht von Stress. (S. 9)Ich hatte in den vielen Phasen meiner Angst sehr viel Zeit, um mir Gedanken darüber zu machen, was eigentlich das Problem der Gesellschaft ist, die Angst zu einem Problem macht.  Würden wir uns alle trauen, im humanistischen Rahmen, zu tun und auch zu lassen, was und wie wir können, und würden andere uns lassen, gäbe es dann noch Angststörungen?

Nicht jede Angst ist krankhaft oder wird im Laufe des Lebens krankhaft empfunden. Es gibt auch die kleinen Ängste, die ein jeder hin und wieder spürt: Sie zählen zu den situativen oder spezifischen Ängste, laut Psychologie. Dabei kann es sich um Beziehungsängste, Angst vor Ärzten, Angst vor bestimmten Tieren, Flugangst oder Höhenangst handeln. Auch die weit verbreitete Rede- und Prüfungsangst zählt dazu.

Laut Bundesstatistikamt erkranken 14,2 Prozent der deutschen Bevölkerung im Alter von 18 – 65 Jahren innerhalb eines Jahres an einer als klinisch relevant betrachteten Angststörung. Das waren 2004 hochgerechnet 6,91 Millionen in Deutschland wohnhaft gemeldete Personen. Wann eine solche Diagnose vorliegt, wird in Klassifikationssystemen wie der International Classification of Diseases (ICD) und dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) beschrieben. „Dort werden die Art, die Ausprägung und die Dauer der gestörten Angstreaktionen“ erläutert. Entspricht die Angstreaktion den dort gegebenen Kriterien, „so handelt es sich nach der deutschen Sozialgesetzgebung (SGB V) um eine Störung mit Krankheitswert“. Man unterscheidet heute die Panikstörung, die Generalisierte Angststörung und unterschiedliche Mischformen, sowie die Agoraphobie (Platzangst), die Soziale Phobie, Spezifische (isolierte) Phobien sowie sonstige phobische Störungen.

Wir erlernen die meiste Angst entweder von anderen, weil wir sie an ihnen sehen oder aber sie uns jemand lehrt, im Sinne des Einflößens, Machens im extremsten Fall oder der frühen Erziehung zu Perfektion oder Wettbewerb usw. Selbstverständlich sind das die kleinen, normalen, als nicht pathologisch eingestuften Ängste, die uns vermittelt werden. Jene, die uns zu Motivation und Höchstleistungen anspornen sollen. Aber wenn wir ein Zuviel davon mit einem Zuoft erleben (sollen/müssen), kann Angst schnell groß, intensiv und krankhaft werden. Würde die Gesellschaft ihre Angst nicht so vehement an jedem auslassen und abwehren, gäbe es nur noch wenig (wie sagt Deutschland?) „unangemessene“ Angst.

boy-447701_1920Wer einmal Angst in extremer Form erlebt hat, sieht alle Facetten der Angst sehr viel intensiver und kritischer als je zuvor: von der frühkindlichen Angsterzeugung als Motivations- und Erziehungsinstrument, über Angst in und wegen Beziehungen, über gewollte Freiheit und wertendes Gefallenwollen, über Vater-Männer (Begriff von Julia Onken) und Mütter-Frauen, über Aggression, Wut, Kummer, Trauer, und Hoffnung. Wer einmal versuchen musste, seine Angst zu verstehen, lernt mehr über sich, als je eine Verhaltenstherapie leisten könnte.

 

Quellen: Verena Kast: Vom Sinn der Angst (HERDER spektrum)
Bundesstatistikamt, Angststörungen [Gesundheitsberichterstattung – Themenhefte, Heft 21, Seite 8. Mai 2004]. Auch online unter www.gbe-bund.de. Abgerufen: 30.05.2015)